Der Fall des gut integrierten jungen Mannes aus Nigeria, der sich seit Jahren im Würzburger Fußballverein SV Heidingsfeld engagiert und nun abgeschoben werden soll, hat bundesweit Schlagzeilen gemacht.
Der 20-jährige Osaivbie Ekogiawe, genannt Kelvin, erfüllt alle Voraussetzungen, um nach Paragraph 25a als gut integrierter Jugendlicher eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen: Er ist seit mindestens vier Jahren in Deutschland. Er ist noch keine 21 Jahre alt. Er hat die Mittelschule abgeschlossen. Er macht gerade eine Ausbildung zum Pfleger. Und er ist im Verein integriert, hat viele Freunde und eine deutsche Freundin.
Würzburger Verwaltungsgericht stoppte die Abschiebung - vorläufig
Doch er sollte abgeschoben werden. Das Würzburger Verwaltungsgericht hat die Abschiebung Mitte Oktober gestoppt - zumindest vorläufig, bis über Ekogiawes Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entschieden ist. Die Zentrale Ausländerbehörde der Regierung von Unterfranken (ZAB) hat Beschwerde gegen das Urteil beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingelegt.
Warum die drohende Abschiebung? Wann und nach welchen Kriterien werden Menschen in ihre Herkunftsländer abgeschoben?
Jemand, der es wissen muss, ist das Ehepaar Michael und Christiane Koch. Als selbstständige Rechtsanwälte vertreten die Kochs Ausländer und Geflüchtete seit 1984 in Migrationsfragen in Würzburg. Michael Koch gehört außerdem der Arbeitsgemeinschaft Ausländer und Asylrecht im Deutschen Anwaltverein an. Er ist Mitglied des Ausschusses "Asyl- und Ausländerrecht" der Bundesrechtsanwaltskammer sowie des Prüfungsausschusses "Fachanwalt für Migrationsrecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
Im Interview erklären die beiden Würzburger Juristen, warum Integration bei der Frage der Abschiebung in Bayern weniger zählt als in anderen deutschen Bundesländern.
Frage: Wann wird jemand abgeschoben?
Michael Koch: Immer dann, wenn jemand vollziehbar ausreisepflichtig ist, also wenn sein Asylverfahren abgelehnt wurde.
Und das ist der Fall, wenn ...
Michael Koch: ... wenn jemand gegenüber dem Bundesamt für Migration nicht glaubhaft nachweisen kann, dass er individuell in seinem Heimatland verfolgt wird oder dass ihm im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland ernsthafter Schaden droht.
Alle anderen werden abgeschoben?
Michael Koch: Nein. In manchen Fällen sprechen auch das deutsche Recht oder die Europäische Menschenrechtskonvention gegen eine Abschiebung. Afghanen und Afghaninnen werden gerade nicht abgeschoben, weil die Lage in ihrem Land prekär ist. Schwangere dürfen sechs Wochen vor der Geburt und acht Wochen nach der Geburt nicht abgeschoben werden. Menschen, die krank und nicht reisefähig sind, ebenfalls. Oder Menschen, deren Identität nicht geklärt ist.

Was passiert mit diesen Menschen?
Michael Koch: Menschen, die keinen Schutzstatus in Deutschland erhalten, aber aktuell auch nicht abgeschoben werden dürfen, gelten als "geduldet". Sie dürfen in der Regel nicht arbeiten und müssen sich an eine Reihe von Auflagen halten.
Einer dieser Fälle in Würzburg hat jetzt Schlagzeilen gemacht: Einem gut integrierten jungen Mann aus Nigeria droht die Abschiebung.
Christiane Koch: Seine Integrationsperspektive ist gut. Für junge Menschen wie ihn gibt es Paragraph 25a, also die Chance auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch die Zentrale Ausländerbehörde. Das einzige, was noch fehlte, war sein Pass. Den hat er jetzt vorgelegt. Deshalb soll er abgeschoben werden - von der Zentralen Ausländerbehörde.
Die gleiche Behörde, die entscheidet, ob Kelvin als gut integrierter Jugendlicher eine Aufenthaltserlaubnis erhält, ist auch dafür zuständig, ihn abzuschieben, sobald das rechtlich möglich ist?
Christiane Koch: Ganz genau. Das Bundesamt für Migration entscheidet über das Asylverfahren. Die Zentrale Ausländerbehörde der Regierung von Unterfranken führt die Abschiebungen durch. Und sie ist auch für alle anderen Belange der geduldeten Menschen zuständig.
Gibt es ähnliche Beispiele?
Michael Koch: Ähnlich ergeht es auch Geduldeten, die eine Deutsche oder einen Deutschen kennenlernen, vielleicht auch schon ein gemeinsames Kind haben und heiraten möchten. Für die Eheschließung brauchen sie einen gültigen Pass. Dann kommt es darauf an, wer schneller ist: die ZAB mit der Abschiebung, sobald der Pass vorliegt, oder das Brautpaar mit der Trauung.
Zeigen viele Geflüchtete ihren Pass nicht, damit sie nicht abgeschoben werden können?
Michael Koch: In den meisten Fällen behalten Schlepper die Pässe ein. Erst in der vergangenen Woche kam eine Gruppe Geflüchteter nackt von der Türkei nach Griechenland. Die Griechen sagen: Die Türken haben die Menschen ausgeplündert. Die Türken sagen: Die Griechen waren es. Es gibt aber auch Fälle, in denen Menschen ihren Pass nicht zeigen, weil sie hoffen, dann nicht abgeschoben zu werden.
Werden Menschen, die vorgeben, keinen Pass zu haben, automatisch geduldet?
Michael Koch: Nein. Es gibt mit vielen, vor allem afrikanischen Ländern Vereinbarungen, in denen Menschen auch ohne Pass abgeschoben werden. Betreffende werden Angehörigen von Botschaften ihres vermuteten Heimatlandes - auch zwangsweise - vorgeführt. Diese prüfen, ob es ein Staatsangehöriger ihres Landes ist. Wenn ja, stellen sie ein Reisedokument für die Abschiebung aus.
Ist es für Geflüchtete schwer, einen neuen Pass zu bekommen?
Michael Koch: Ja. Denn nicht alle Botschaften aller Länder stellen Pässe aus. Afghanistan zum Beispiel nicht. Zudem verlangen Botschaften Herkunftsnachweise. Dafür brauchen die Betreffenden aber Verwandte oder Freunde in ihrem Herkunftsland, die offizielle Dokumente der Landesbehörden nach Deutschland zuschicken.

Und wenn er oder sie es am Ende schafft, folgt die Abschiebung?
Michael Koch: Diejenigen, die sich um ihre Identitätsklärung bemühen, sind oft besonders bedroht, abgeschoben zu werden. Das ist ein Dilemma.
Oft entsteht der Eindruck, wir schieben diejenigen ab, die gut integriert sind. Andere, die sich komplett verweigern, bleiben hier.
Michael Koch: Ich arbeite seit 38 Jahren im Migrationsrecht. Das Problem heute ist die Entpersonalisierung: Es gibt kaum noch persönliche Kontakte zwischen den Geflüchteten und den jeweiligen Sachbearbeitern. Die Zentrale Ausländerbehörde in Unterfranken sitzt in Geldersheim im Landkreis Schweinfurt. Innerhalb der ZAB sind die Leute spezialisiert. Einige entscheiden nur darüber, ob jemand abgeschoben wird, andere nur darüber, ob jemand eine Aufenthaltserlaubnis bekommt, wieder andere darüber, ob jemand arbeiten darf. Es ist anders als früher, als die Ausländerbehörden noch bei der jeweiligen Stadt oder dem Landratsamt für die Geflüchteten zuständig waren. Sie kannten die Menschen richtig.
"Diejenigen, die sich um ihre Identitätsklärung bemühen, sind oft besonders bedroht, abgeschoben zu werden. Das ist ein Dilemma."
Rechtsanwalt Michael Koch
Im Fall des Würzburger Kreisliga-Fußballers, der viele Freunde hat, wird die drohende Abschiebung öffentlich. Gibt es viele ähnliche Fälle gut integrierter Menschen, die abgeschoben werden?
Christiane Koch: Allein im vergangenen Jahr hatten wir vier Fälle, in denen Familienväter in Würzburg abgeschoben wurden. Erst vor kurzem sollte ein Äthiopier abgeschoben werden, dessen Frau und kleine Kinder vom Verwaltungsgericht als Flüchtlinge vorläufig anerkannt sind. Eines Abends kam die Polizei und holte ihn ab. Hätte eine Ordensschwester uns an dem Abend nicht erreicht, wäre er jetzt in Addis Abeba. Dank eines Eilantrags, vieler Telefonate und einem Richter, der zu später Stunde noch entschieden hat, holte die Bundespolizei den Mann in letzter Minute aus dem Abschiebeflieger. Es war nervenaufreibend. Heute macht der zweifache Familienvater eine Ausbildung in einem gehobenen Würzburger Restaurant.
Dürfen Väter deutscher Kinder auch abgeschoben werden?
Michael Koch: Eigentlich nicht. ABER: Die Voraussetzung für eine Aufenthaltsgenehmigung ist, dass sie mit einem Visum einreisen. Und deshalb wird in Bayern nur der Vater nicht abgeschoben, der freiwillig ausreist, um mit einem Visum danach wieder einzureisen. Das ist eine bayerische Spezialität. In anderen Bundesländern bekommen Väter eines deutschen Kindes automatisch die Aufenthaltsgenehmigung oder zumindest eine Duldung.

Und warum reisen die Väter dann nicht aus und wieder ein? Es ist doch eine "überschaubare Zeit der Trennung für Kind und Vater", wie die Behörden argumentieren.
Michael Koch: Visa können nur an der deutschen Botschaft des jeweiligen Landes beantragt werden. Das kann je nach Land schon mal Monate dauern. Wenn es in einem Land keine deutsche Botschaft gibt, muss derjenige ins Nachbarland reisen - wenn er in dieses Land überhaupt einreisen darf. Der Flug, die Unterkunft, die Gebühren für das Visum, alles muss selbst finanziert werden.
Legt Bayern die Asylgesetze eher zum Vorteil oder zum Nachteil der Geflüchteten aus?
Christiane Koch: Zum Nachteil. Gerade habe ich den Fall eines Jugendlichen aus Nigeria, der eine Ausbildung zum Berufskraftfahrer macht. Sein Arbeitgeber will ihn unbefristet übernehmen. Seine Kollegen lernen mit ihm Deutsch. Er ist stolz auf seine Ausbildung. Weil er jeden Tag mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Ochsenfurt nach Estenfeld fährt, erst spätabends nach Hause kommt und keine Zeit für Vereinsarbeit hat, verlangt die ZAB jetzt, dass er seine Integration und sein soziales Engagement "mittels moderner Kommunikationsmittel" nachweist. Er soll also seine privaten Nachrichten auf Facebook offenlegen. Was soll das?
Werden in Bayern mehr Menschen abgeschoben als in anderen Bundesländern?
Michael Koch: Nein. Bei den Abschiebungen liegt Nordrhein-Westfalen an der Spitze. Aber bei der Auswahl der Menschen, die abgeschoben werden, gibt es einen großen Unterschied. In Nordrhein-Westfalen wird genauer hingeschaut: Wen schieben wir ab? Wen setzen wir auf die Liste ganz oben? In Bayern nicht.