Als wohne jemand in ihr, der sie zur Rebellion ruft, immer, überall, zu jeder Gelegenheit. Heike Pauline Grauf kämpft gegen den geregelten Gang der Dinge, sie ist eine Feindin der Ordnung. Sie plagt Oberbürgermeister und Stadtratsmitglieder, Uni-Präsidenten und Verwaltungsleute, Richter, Rechts- und Staatsanwälte, Gewerkschafter, Künstler, Passanten, Freunde, Weggefährten und Journalisten. Natürlich auch Journalisten. Heike Pauline Grauf stört.
Sie ist ein bisschen was über 1,60 Meter groß, eine schmale Frau mit einem schmalen Gesicht und einem breiten Mund, mit sonorer Stimme, warmem Lachen und neugierigen Augen. Sie ist gescheit, kreativ – ein angenehmer Mensch, durchaus. Aber.
Heike Pauline Grauf schlägt brutal zurück, wenn sie sich brutal getroffen fühlt. Jüngstes Beispiel: ihre Attacke gegen eine Journalistin, vollzogen beim Neujahrsempfang der Stadt im Rathaus. Grauf hatte auf ihr T-Shirt den Vornamen der ihr missliebigen Reporterin drucken lassen, dazu die Frage: „Willst Du eine auf die Presse?“ Sie wehrt sich mit allem, was sie hat, gegen eine Berichterstattung, die sie als beleidigend empfindet. Grauf war vor Gericht gestanden, angezeigt von Oberbürgermeister Georg Rosenthal wegen Hausfriedensbruchs; es ging um die Störung einer Stadtratssitzung. Der Richter schlug einen Kompromiss vor: Rosenthal zieht seine Anzeige zurück und übernimmt die Gerichtskosten, wenn Grauf erklärt, keine Sitzung mehr zu stören. Der OB willigte ein, Grauf auch, unter der Bedingung, das Wort „mehr“ zu streichen. So kam es dann auch. Die Main-Post berichtete, sie sei „zu Kreuze gekrochen“. Grauf empfand das als eine ungeheure Demütigung.
Sie hat einen Bettelnarrenorden propagiert und das Betteln zur Kunst erklärt. Sie ist als Tierschützerin gegen den städtischen Umweltreferenten angetreten und gegen die Werkstattbühne, die Alfred Poss' Textcollage „Zwei Hühner werden geschlachtet“ aufführte. Mit einer Theatergruppe mit dem sinnfälligen Namen „Maulauf“ wurde sie gerichtsbekannt: Sie wurde in ihrem Kampf gegen Tierversuche zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie den Uni-Präsidenten beleidigt und mit der Lautstärke ihres Megafons dessen Sekretärin fahrlässig verletzt hat. Mit „Maulauf“ wollte sie der Oberbürgermeisterin Pia Beckmann den „überflüssigen OB“ – ein Tampon – auf einem Silbertablett überreichen; die Polizei kam dazwischen. Sie tauchte, verkleidet als Sensenmann, mit Mitstreitern in einer Stadtratssitzung auf, um gegen das Fällen von 150 Bäumen in der Trautenauer Straße zu protestieren. Sie hat sich mit Leuten im Dachverband freier Würzburger Kulturträger überworfen, mit der Leitung des Mainfranken Theaters, mit Mitgliedern des Vereins „Menschen für Tierrechte“, einer Straßenzeitungsinitiative, des Ver.di-Erwerbslosenausschusses. Sie streitet für ihre Vorstellung von Gerechtigkeit für Menschen und Tiere und glaubt, sie würde depressiv werden, wenn sie es nicht täte.
Eine kleine Wohnung in Grombühl, ein bisschen unübersichtlich mit den vielen Möbeln, Kartons, Büchern, Zierrat; überall hängt und steht was. Grauf beschreibt sich als Messie mit Chaossucht; ihre Wohnung ist vollgepackt, wirkt trotzdem nicht unordentlich und erst recht nicht schmutzig. Hier ist Heike Pauline Graufs Refugium, wo sie Streiche plant und Wunden leckt.
Sie ist eine gute Gastgeberin. Sie nimmt übel, wenn man nichts nimmt von ihrem reich gedeckten Tisch. Sie nimmt noch mehr übel, wenn der Gast seine Zurückhaltung mit ihrer schwierigen finanziellen Situation erklärt. Sie findet, auch arme Leute haben ein Recht darauf, dass man ihnen die Haare vom Kopf frisst.
Grauf ist Vorstandsmitglied im Ver.di-Bezirksfachbereich Medien, Kunst und industrielle Dienstleistungen. Einer ihrer Weggefährten ist Peter Baumann, der politische Sekretär der Gewerkschaft Ver.di in Würzburg. Baumann ist 63 Jahre alt; der Mann hat schon viel gesehen und mitgemacht. Er schätzt die Grauf; geistreich sei sie, provokant, verwundbar, angreifbar, sensibel. Und anstrengend.
Er hat sie mit der Theatertruppe „Maulauf“ erlebt, die unter anderem gegen Hartz IV anspielte – „sehr derbes Agitprop“ sei das gewesen, sagt er, „und nicht nur ,Maul auf‘, sondern auch den Leuten aufs Maul gehauen“.
Naiv findet Baumann die Grauf manchmal, in einem positiven Sinn: „nicht berechnend, nicht taktierend, außerordentlich aktionsorientiert“. Und manchmal stehe sie „neben den Regeln, die es zu beachten gilt, wenn man sich der Öffentlichkeit stellt“. Aber die kenne sie nicht und die interessierten sie auch nicht. Er sieht, wie sie Interesse, Toleranz und Verständnis für ihre Aktionen einfordert und er sieht auch eine gewisse Intoleranz bei ihr. „Schwierig“, findet er das und meint trotzdem, dass sie „in der Öffentlichkeit zu hart angegangen“ werde, „ein bisschen mehr würdigen könnte man sie schon“ für ihr Engagement.
Wer provoziert, muss einstecken. Grauf muss mehr einstecken, als sie aushalten kann. Sie versteht den Widerstand nicht, den sie gegen sich entfacht. Im Gespräch mit dieser Zeitung sagte sie, sie finde „nicht so wahnsinnig aufregend“, was sie macht, eher unkonventionell. Sie bestaunt, „dass das, was eigentlich logisch und natürlich wäre, ständig mit einem Aufschrei des Entsetzens beantwortet wird“. Eine Närrin sei sie, Till Eulenspiegels Tochter. Narren träten halt nicht auf, wenn sie erwünscht sind, man könne nicht verlangen, dass sie Genehmigungen für ihr Tun einholen.
Heike Pauline Grauf solidarisiert sich mit den Tauben – Tieren, die in der Stadt angefeindet werden wie sonst nur Ratten. Sie meint, sie und die Tauben führten „ein sehr ähnliches Leben“. Tauben würden ständig von ihrem Ort verjagt „und ich werde auch ständig verjagt. Egal, wo ich Fuß fassen will, werde ich verjagt“. Sie sieht in Tauben nicht die Viecher, die eine Stadt zuscheißen und Krankheiten übertragen, sondern Symbole für den Frieden und für den Heiligen Geist.
2001, erzählt sie, habe sie eine Schnecke gefunden, das habe ihr Leben radikal verändert, „weil ich mich auch als Schnecke empfinde. Ich bin zu langsam für diese ganze Welt.“ In der christlichen Mythologie ist die Schnecke Symbol für den Auferstandenen; Grauf nimmt die Symbolik an, deutet sie um, findet in der Schnecke auch ein Symbol der Ruhe, lebt in ihrer Wohnung wie in einem Schneckenhaus. Sie sagt, sie habe ein „symbiotisches Verhältnis“ zu Tauben und Schnecken.
Manchmal wirkt sie, als käme sie von einem anderen Planeten. Aber sie ist eine gebürtige Würzburgerin, Jahrgang 1959, geboren in der Rotkreuzklinik, zunächst am Leben gehalten in einem Brutkasten, drei Monate lang. Ihre Mutter ist eine Hausfrau. Ihr Vater, ein Postbote, ist gestorben, als sie 25 Jahre alt war.
Die Grauf und ihr Vater: Sie beschreibt ihn als cholerisch und gewalttätig, aber auch als lieb. Er habe ihr die Kunst nahe gebracht, er habe sie aber auch um ihr Leben fürchten lassen; unberechenbar sei er gewesen.
Als Kind, berichtet sie, habe sie – wie auch später noch – unter schweren Depressionen gelitten. Und „sehr schräg“ sei sie gewesen, sie habe „oft ganz komische Zustände“ gehabt. Sie glaubt, „psychisch ziemlich gestört“ und zwangsneurotisch gewesen zu sein. Niemand habe das bemerkt, nur, dass sie frech sei und renitent. Mit ihren Eltern habe sie nicht darüber reden können.
Wie hat sie sich gerettet? Sie sagt, sie habe sich nicht gerettet. „Ich habe mich da reingeschmissen. Egal, was passiert ist, ich habe einfach gemacht, was ich wollte, was ich für richtig gehalten habe.“ Sie habe „ganz entschieden das Gefühl“ gehabt, dass falsch ist, was ihr Vater tue. Viele Kinder, die im Elternhaus Gewalt erleben, erkennen das Unrecht nicht, weil sie es nicht besser wissen. Woher kam ihre Einsicht? „Aus mir selbst heraus.“
Das Kind ist verstört, also stört es. Glaubt man der Grauf, dann ging die jugendliche Heike ihre Lehrern und Mitschülern auf den Geist, als Außenseiterin und Klassenkasper, gehänselt mit bösen Spitznamen, die ihr zu schaffen machten. Dann entsprach sie nicht gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit, fühlte sich deswegen gemobbt und prügelte sich mit Jungs, das verschaffte ihr Erleichterung. Was sie erzählt, klingt nach Terror und Gegenterror.
Sie berichtet aber auch über maßlose Fürsorge durch ihre Mutter, der sie sich bis zur Aufgabe ihrer Selbstständigkeit hingab. Ein Mietvertrag, ein Telefonanschluss, ein Bankkonto, der ganze Behördenkram, diese undurchschaubaren, übermächtigen Institutionen der Ordnung, diese Säulen der Bürgerlichkeit – Grauf fürchtete sich vor ihnen, vor Herausforderungen, die sie nur schwer oder gar nicht bewältigen kann, und zog erst als 33-Jährige aus.
Als 16-Jährige entdeckte sie ihre Homosexualität. 1988 segnete der protestantische Studentenpfarrer Richard Weißkopf sie und ihre Partnerin in einer trauungsähnlichen Zeremonie. Die Tat sorgte für einen Eklat in der evangelischen Kirche, Weißkopf musste sein Amt als Studentenpfarrer aufgeben. Die Verbindung mit ihrer Partnerin, erinnert sich Grauf, geriet zum „reinen Desaster“; die beiden trennten sich.
Grauf erzählt von einem Schlüsselerlebnis als junger Mensch, und es ist nicht leicht, das nachzuvollziehen: Sie habe versucht, sich vorzustellen, was der Staat ist. „Und dann ging's halt nicht. Es hat nicht geklappt. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Das war ein ganz tiefes Erlebnis, und das hat mir Angst gemacht. Und ich dachte auch, dass ich verrückt werde, weil ich's mir nicht vorstellen kann, und ich wollte es mir halt so gern vorstellen.“ Sie verfiel auf den Gedanken, dass nicht existiert, was man sich nicht vorstellen kann. Und sie meint, dass man sich nicht vorstellen darf, was nicht existiert. Romane etwa hält sie für ein Unding, sie dürften weder geschrieben noch gelesen werden. Grauf ist beunruhigt vom Gedanken, „dass Romanfiguren existieren, die eigentlich kein Leben haben“. Realität zu erfinden sei „eine Hybris, da macht man sich praktisch zum Gott“. Der Mensch müsse sich mit dem befassen, was tatsächlich ist, mit lebenden Wesen.
Um sich Vorstellungen machen zu können von dem, was ist, begann sie, alles wörtlich zu nehmen, wie Till Eulenspiegel das im Mittelalter getan haben soll. Damit ist sie endgültig heraus gesprungen aus der Welt der Bürgerlichkeit und dem bürgerlichen Verstehen. Aber wo ist sie gelandet?
Grauf hinterfragt und untergräbt. Sie nervt, mal, weil sie nicht anders kann, mal mit Bedacht. Bei einer Gelegenheit ist sie im Stadtrat mit einem T-Shirt aufgetaucht mit der Aufschrift: „Darf ich mal kurz stören?“
Es scheint, als sei sie die Gefangene ihrer eigenen Widerständigkeit. Als könne sie gar nicht herauskommen aus ihrer eigenen Welt, weil sie von einer anderen Welt gar nichts weiß. Dabei ist ihr der Gedanke, dass sie eine Rebellin sei, völlig fremd. Vielmehr hält sie eine Welt, in der Menschen und Tiere Hunger, Not, Verfolgung, Gewalt und Mord erleiden, für eine Rebellion gegen alles, was gut und richtig ist.
Heike Pauline Grauf arrangiert sich nicht. Für sie ist unvorstellbar zu Kreuze zu kriechen. Sie ist so tief in ihrer eigenen Welt angekommen, dass sie bürgerliche Notwendigkeiten nicht erkennen kann. Niemand akzeptiert, was er nicht erkennt, auch sie nicht. Sie ist so schräg und ohne Beispiel in der Stadt, dass sie für viele kaum zu verstehen ist und von vielen nicht akzeptiert wird. Sie sagt, Ablehnung und Zustimmung hielten sich etwa die Waage, mit einem leichten Überschuss an Zustimmung, „vor allem im Geheimen“.
Grauf zahlt einen hohen Preis: findet keinen Job, hat viele Gegner, lebt von Hartz IV, plagt sich mit Krankheiten. Und was wäre, wenn sie sich mühte, ein bisschen diplomatischer, bekömmlicher, verständlicher zu sein? Offenbar geht das nicht. Sie sagt, dann würde sie sich selbst aufgeben und könne sich gleich umbringen.
Der Gewerkschafter Baumann glaubt, Grauf sei nicht kleinzukriegen. Dann verbessert er sich: Er sehe schon die Gefahr, dass sie irgendwann mal kleingemacht wird. Und das, sagt er, fände er sehr schade.