Wie kann man Athletinnen und Athleten vor sexualisierter Gewalt schützen? Diese Frage ist nicht neu, aber aktueller denn je, spätestens nach den Enthüllungen der ARD über Missbrauch und sexualisierte Gewalt im Schwimmsport. Die Debatte erreichte durch den Fall Stefan Lurz auch den SV Würzburg 05. Der Verein hatte den ehemaligen Schwimmtrainer nach dessen Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen als kaufmännischen Angestellten weiterbeschäftigt, was eine heftige Debatte auslöste.
Amelie Ebert, Schwester der Fecht-Europameisterin Leonie Ebert, war jahrelang Synchronschwimmerin beim SV Würzburg 05. Seit dem Ende ihrer Karriere engagiert sie sich für integren Sport und arbeitet eng mit dem Verein Athleten Deutschland zusammen. Der Verein wurde 2017 gegründet und vertritt die Interessen von Spitzensportlerinnen und -sportlern. Athleten Deutschland fordert ein unabhängiges Zentrum für "Safe Sport", an das sich Betroffene sexualisierter, physischer und psychischer Gewalt wenden können. Im Gespräch erklären Amelie Ebert und Maximilian Klein, der Internationale Sport-Politik studiert hat und seit 2018 als Sprecher für Athleten Deutschland arbeitet, warum solch eine Anlaufstelle dringend notwendig ist.
Frage: In Würzburg ist die Debatte um sexualisierte Gewalt im Schwimmsport erneut hochgekocht, als herauskam, dass der SV Würzburg 05 den ehemaligen Trainer Stefan Lurz nach seiner Verurteilung als Sexualstraftäter als kaufmännischen Mitarbeiter beschäftigt hat. Inzwischen ist der Arbeitsvertrag aufgelöst, die Diskussion geht aber weiter. Was sagen Sie zu diesem Fall?
Amelie Ebert: Aus meiner Perspektive wäre es wichtig, dass der SV Würzburg 05 das Problem anerkennt, den Betroffenen Unterstützung zusagt und die Strukturen schafft, die einen ähnlichen Fall in Zukunft sehr schwer machen. Ich finde es unsensibel, Stefan Lurz nach seiner Verurteilung weiter zu beschäftigen. Das ist für mich kein Zeichen, dass man das Thema und Betroffene ernst nimmt und sie bestmöglich schützen will. Für mich ist es in diesem Fall auch zweitranig, ob es rechtlich möglich war, dass er als kaufmännischer Mitarbeiter angestellt war. Die Verantwortlichen hätten zumindest umfassend erklären müssen, warum sie denken, dass kein Risiko mehr besteht und warum sie es für vertretbar halten, Betroffene dieser Situation auszusetzen.
"So eine Person weiterhin anzustellen, einen verurteilten Sexualstraftäter, das weist auf Täter- und Institutionenschutz hin."
Maximilian Klein, Sprecher von Athleten Deutschland
Maximilian Klein: Es gibt Stufenmodelle zum Umgang mit sexualisierter Gewalt, die für die Mitgliedsorganisationen des Deutschen Olympischen Sportbundes und der Deutschen Sportjugend im Olympischen Sportbund bindend sind. Die Schwierigkeit ist, hochwertige Schutzkonzepte flächendeckend in die Vereine zu tragen. Da gibt es eine alarmierende Zahl aus dem aktuellen Sportentwicklungsbericht. Demnach haben sich 40 Prozent der Vereine unzureichend oder gar nicht mit dem Thema Prävention befasst. Da stellt sich die Frage, inwiefern man mit einem Anreizsystem arbeiten oder durch Sanktionen Druck aufbauen müsste. Im Fall Stefan Lurz gab es seit Jahren Gerüchte und 2010 auch schon mal eine Beschuldigung. So eine Person weiterhin anzustellen, einen verurteilten Sexualstraftäter, das weist auf Täter- und Institutionenschutz hin und sendet nicht das Signal, dass man ohne Bedenken seine Kinder in diesen Sportverein schicken kann.

Was macht den Sport so anfällig für sexuelle Gewalt?
Klein: Im Breiten- und im Leistungssport gibt es spezifische Risikofaktoren. Sportvereine werden nicht umsonst manchmal als Ersatzfamilie bezeichnet. Auch Täterinnen und Täter können hier niedrigschwelligen Zugang haben. Im Leistungssport sind die Abhängigkeitsverhältnisse nochmal stärker ausgeprägt, weil schon im frühen Alter eine biografische Fixierung stattfindet und es einen starken Fokus auf Körperlichkeit gibt. Die Distanz- und Näheverhältnisse im Leistungssport sind daher andere als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Für Sportorganisationen erwachsen aus diesen Risikofaktoren nicht verhandelbare Sorgfaltspflichten, um Schutzbefohlene bestmöglich zu schützen.

Ebert: Wenn man speziell den Schwimmsport anschaut, kommen noch Risikofaktoren hinzu: die wenige Bekleidung und die sehr hohen Trainingsumfänge. Die Sportlerinnen und Sportler verlassen früh das familiäre Umfeld, verbringen den Großteil der Zeit im Schwimmbad, und die Trainer und Betreuer werden so zu engen Bezugspersonen.
Ist der sehr familiäre Umgang im Sport zugleich der Grund, warum sich Verbände schwertun mit der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt?
Klein: Es gibt im Sport kulturelle und strukturelle Faktoren, die einen betroffenenzentrierten und effektiven Kampf gegen Missbrauch erschweren können. Das können familiäre Beziehungsgeflechte, falsche Loyalitäten oder geschlossene Systeme mit Wagenburgmentalität sein. Teilweise sind handelnde Personen Interessenkonflikten ausgesetzt. Oder sie sind um Aufarbeitung bemüht, können sich aber intern nicht durchsetzen. Mitunter werden Übergriffe und Gewalt als solche nicht erkannt, es wird weggeschaut und geschwiegen. Ehrlicherweise muss man sagen, dass Verbände an ihre Grenzen geraten, weil sie gar nicht die Möglichkeit haben, auf alle Situationen verbindlich einzuwirken. Sie können nur Empfehlungen aussprechen, haben in den Vereinen aber kein Durchgriffsrecht im Fall von Übergriffen, die sich unterhalb des strafrechtlich relevanten Rahmens bewegen. Deshalb braucht es unabhängige Organisationen, die sicherstellen, dass den Opfern geglaubt wird, Untersuchungen eingeleitet werden und Konsequenzen folgen.
Athleten Deutschland fordert die Einrichtung einer solchen unabhängigen Organisation, eines Zentrums "Safe Sport", schon seit etwa eineinhalb Jahren. Passiert ist aber bisher nicht viel, oder?
Klein: Es hat sich viel getan - auch wenn noch nichts umgesetzt ist. Nachdem Athleten Deutschland Anfang 2021 den Impuls für ein Zentrum "Safe Sport" gab, hat sich in der Politik sehr rasch eine parteiübergreifende Unterstützung gefunden. Aber Sie haben Recht, es hat ein bisschen gedauert, bis der organisierte Sport eine Haltung zu der Forderung gefunden hat. Inzwischen befürworten etwa der Deutsche Olympische Sportbund und der Deutsche Schwimm-Verband ein solches Zentrum ausdrücklich. Ein gesellschaftlicher Konsens ist gefunden, jetzt muss die Umsetzung folgen. Uns ist klar, dass das ein Mammutprojekt ist. Deshalb haben wir im Mai die unabhängige Anlaufstelle "Anlauf gegen Gewalt" an den Start gebracht. Wir wollten damit dem dringenden Bedarf der Betroffenen im Spitzensport nach einer unabhängigen Beratung und Fallbegleitung so schnell wie möglich entsprechen.
Ebert: Wir müssen dranbleiben und aufpassen, dass das Konzept nicht wieder in der Schublade verschwindet. Ich habe auch das Gefühl, dass sich total viel getan hat in den vergangenen Jahren. Als wir mit unserer Arbeit angefangen haben, mussten wir noch oft erklären, warum es eine unabhängige Beratungsstelle braucht. Dieses Erkenntnisproblem gibt es nicht mehr.
Die von Athleten Deutschland ins Leben gerufene Stelle "Anlauf gegen Gewalt" gibt es seit Mai. Wie ist bisher die Resonanz?
Klein: Wir merken, dass das Angebot genutzt wird, haben teilweise mehrere Kontaktanfragen pro Woche. Das überrascht nicht, denn das Vorherrschen sexualisierter Gewalt im Spitzensport ist ermittelt. Die Strukturdefizite sind bekannt. Es ist wichtig, dass es diese Stelle gibt, aber klar ist auch, dass wir damit keine Probleme im System lösen können, sondern nur Symptome behandeln.
"Da werden teilweise Menschen als Zuständige benannt, die Interessenskonflikte haben."
Maximilian Klein, Sprecher von Athleten Deutschland
Was macht die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen für Vereine so schwierig?
Ebert: Das Problem ist vielfältig. Es kann sich beispielsweise in einem Verein eine schädliche Kultur entwickeln, für deren Auflösung eine externe Person hilfreich wäre. Stellen Sie sich vor, ein Trainer macht über Jahre anzügliche Witze und sagt dann, man lege Wert auf einen respektvollen Umgang miteinander. Das ist nicht glaubwürdig. Wenn ein Verein nicht in der Lage ist, so etwas selbst aufzulösen oder geeignete präventive Strukturen zu schaffen, muss er sich Hilfe holen. Vereine erkennen ihre blinden Flecke nicht allein.
Klein: Das Gefälle ist groß. Es gibt einige Landessportbünde, die sehr gut aufgestellt sind und hauptamtliche Interventionsteams haben. Gleichzeitig haben wir Spitzenverbände und Vereine, bei denen Präventionsstellen im Ehrenamt laufen. Da werden teilweise Menschen als Zuständige benannt, die Interessenskonflikte haben, die sich intern nicht durchsetzen können oder nicht qualifiziert sind. Hier stößt das Ehrenamt an seine Grenzen. Gerade beim Thema Intervention wissen wir, dass Verbände und Vereine nur eingeschränkt handeln können und schnell überlastet sind.

Was können Vereine tun, an wen können sie sich wenden, wenn sie geeignete präventive Strukturen schaffen wollen?
Klein: Es ist wichtig, sich bei Risikoanalysen und der Umsetzung von Schutzkonzepten beraten zu lassen, sich auch auf kommunaler Ebene mit den entsprechenden Akteuren zu vernetzen. Außerdem gilt es, eine Kultur des Hinsehens zu schaffen. Dafür sind alle verantwortlich: Eltern, Trainer, Funktionäre und Athleten. Außerdem ist es unerlässlich, das Leid der Vergangenheit anzuerkennen, dieses Unrecht zum Thema der Gegenwart zu machen und dem Recht der Betroffenen auf Aufarbeitung zu entsprechen. Solche Aufarbeitungsprozesse können schmerzlich sein; gerade für ehrenamtlich geführte Vereine ist die Herausforderung groß. Ein Zentrum für "Safe Sport" soll auch hier Hilfestellung leisten können.
Der Verein Athleten DeutschlandAthleten Deutschland wurde 2017 gegründet und setzt sich für die grundlegende Veränderung im deutschen und internationalen Sportsystem ein. Unter anderem hat der Verein eine Anlaufstelle ins Leben gerufen, an die sich Athletinnen und Athleten wenden können, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind.An die Stelle "Anlauf gegen Gewalt" können sich Kaderathletinnen und -athleten wenden, die sexualisierte, psychische oder physische Gewalt erfahren oder erfahren haben. Die Organisation bietet die Möglichkeit einer psychosozialen und rechtlichen Erstberatung und einer langfristigen Fallbegleitung: Tel.: 0800 90 90 444, E-Mail: kontakt@anlauf-gegen-gewalt.orgEin Zentrum "Safe Sport" zu schaffen hat sich die neue Bundesregierung als klaren Handlungsauftrag in den Koalitionsvertrag geschrieben. Bereits unter Kanzlerin Angela Merkel hat das Bundesministerium des Inneren eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, die eine zeitnahe Schaffung eines solchen Zentrums mit Nachdruck empfiehlt.cam