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Aus Sehnsucht nach Frieden

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Aus Sehnsucht nach Frieden

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    Der große Tag: Viele hundert Menschen, unter ihnen viele junge, kamen am 30. August 1953 auf den Röttinger Marktplatz, um bei der Proklamation zur Europastadt dabei zu sein.
    Der große Tag: Viele hundert Menschen, unter ihnen viele junge, kamen am 30. August 1953 auf den Röttinger Marktplatz, um bei der Proklamation zur Europastadt dabei zu sein. Foto: Archivfoto: Röder

    So viel Enthusiasmus für Europa gibt es heutzutage kaum noch. Dicht gedrängt stehen im Sommer 1953 die Menschen auf dem Röttinger Marktplatz und jubeln frenetisch, als kurz nach dem Elf-Uhr-Läuten die Europafahne vor dem barocken Rathaus gehisst wird. Röttingen wird Europastadt – die erste in Deutschland.

    Es sind vor allem junge Leute, die sich am 30. August 1953 auf dem Röttinger Marktplatz versammeln. Junge Menschen, die Ideale haben. Die beflügelt sind von der Sehnsucht nach einem dauerhaften Frieden. Und die glauben, dass sich dieser nur in einem vereinten Europa aufbauen und bewahren lässt.

    „Europa kann nur gerettet, wieder zum Blühen gebracht, kommende Kriege verhütet werden, durch Abbau des herrschenden Misstrauens, durch gegenseitige Respektierung und Anerkennung“, erinnert sich Elmar Düll, Sohn eines Röttinger Gastwirtes. Er ist es hauptsächlich, der den Europagedanken unter den jungen Leuten verbreitet. 1995 schreibt Düll seine Erinnerungen nieder. Ohne seine Aufzeichnungen wären wahrscheinlich viele einzelne Schritte zur Europastadt Röttingen heute vergessen; die Erinnerungen der wenigen Zeitzeugen sind mittlerweile verblasst.

    Einer von ihnen ist Wilhelm Schwarzmann, mittlerweile 93 Jahre alt. Schwarzmann begründete den Kreisverband Röttingen der Europa-Union. Seit zehn Jahren lebt er im Seniorenzentrum Taubertal. An vieles kann sich Wilhelm Schwarzmann nicht mehr erinnern. Zu lange her ist das alles schon. Doch Elmar Düll ist noch in seinen Gedanken präsent – und seine Ideen von Europa.

    „Dass die Europäer in Frieden leben und sich entwickeln können. Das wollten wir“, sagt Wilhelm Schwarzmann. Das „Wir“ bezieht sich auf hauptsächlich junge Männer, die gerade aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekehrt sind. Nach all ihren schrecklichen Erfahrungen prägt und eint sie nur ein Gedanke: „Kein Krieg soll mehr in Europa entstehen!“

    Auch Elmar Düll war im Krieg. Soldat in der Wehrmacht. Danach Minenräumer am sogenannten Westwall und eineinhalb Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft, später Angestellter und Telefonist bei der Militärregierung der französischen Besatzungszone. Am 1. März 1952 kehrte er in seine Heimatstadt Röttingen zurück – zuvor arbeitete er beim Suchdienst der Vereinten Nationen.

    In Röttingen trifft der weltoffene Elmar Düll auf viele Gleichgesinnte. Auf Ausgewiesene und Ausgebombte. Miteinander gemein haben sie, dass sie alle einen Ausweg aus dem „Dilemma der bedrohlichen Nachkriegszeit“ suchten, so Düll.

    Die vorwiegend jungen Leute verabreden sich. Im Café Kohlenberger diskutieren sie über die Situation in Europa, über Auswege aus der Krise, über die Zukunft – über ihre Zukunft. Einmal kommt Werner Repplinger dazu. Er ist Studienrat an der Würzburger Universität und Vorsitzender des Bundes Europäischer Jugend. Bis dahin kannte Düll diese Vereinigung nicht. Der Mann begeistert die jungen Leute. Sie identifizieren sich mit seinem Vortrag, teilen seine Gedanken. Noch am selben Abend gründen sie eine Kreisgruppe des Bundes Europäischer Jugend. Düll wird ihr Vorsitzender.

    Ihr Büro richten sie in der Burg Brattenstein ein. Lebhaft diskutieren sie über Jugendaustausch. Planen, die Burg zu einer Europa-Jugendherberge auszubauen. Junge Europäer sollen hier kostenlos übernachten können. Die Jugend Europas könnte sich in Röttingen treffen, schwebt ihnen vor. Und tatsächlich kommen dann auch bald die ersten Besucher: „Viele haben wir für unsere Ideale gewonnen. Der Anfang war gemacht“, schreibt Elmar Düll.

    Eine Idee jagt die nächste. Einen Campingplatz auf der Tauberinsel unterhalb des Elektrizitätswerkes wollen schwebt ihnen vor. Denn mittlerweile treffen sich viele junge Leute in Röttingen – aus Turin, England und Italien. Doch diese Idee stößt in Röttingen auf „taube Ohren“, hält Düll fest.

    Die Begeisterung für den europäischen Gedanken schwappt auf Dülls Mutter über. Aus gefärbten Bett-Tüchern näht sie eine Europa-Fahne zusammen. Das grüne „E“ und das Röttinger Stadtwappen darauf stickt sie selbst. Sogar einen Gala-Abend organisiert die Europa-Union. Er wird „die Veranstaltung des Jahres“. Pantomimenkünstler Marcel Marceau – später ein Weltstar – tritt hier für fünf Mark Gage bei freier Kost und Logis auf. Trotzdem glauben die jungen Röttinger nicht, dass diese Europabegeisterung auch auf die übrigen Röttinger übergeht. „Wir suchten etwas, das ohne größeren Kostenaufwand die größtmögliche Anzahl Menschen anziehen würde“, schreibt Düll in seinen Erinnerungen. Und so wird die Idee, Röttingen während des Gauvolksfestes zur Europastadt auszurufen, geboren. Wer genau diesen Einfall hatte, weiß Düll nicht mehr.

    Viel Arbeit kam auf die Burschen zu. Am meisten Kopfzerbrechen bereitet der Text der Urkunde. Monate lang überlegen die jungen Leute, was darauf stehen soll. Der Text soll die Wichtigkeit des Ereignisses ausdrücken und die Wichtigkeit begründen. „Fast waren wir schon dabei, die Urkunde aufzugeben, weil uns kein Text einfiel“, schreibt Düll.

    Doch dann kommt ihm während der Arbeit die zündende Idee. Schnell tippt er den Text in die Maschine, damit er nichts vergisst. Sein Vorschlag bekommt die Zustimmung der anderen. Ein Künstler in Bad Mergentheim gestaltet schließlich die Urkunde.

    Der große Tag kann also kommen. Am 30. August 1953 wird Röttingen zur Europastadt proklamiert. Fahnen schmücken den Marktplatz, „Menschen aus ganz Europa sind zu Gast“, erinnert sich Düll. Noch bevor der Europarat die Auszeichnung „Europastadt“ verleiht, gibt sich das kleine Tauberstädtchen selbst diesen Namen. Als erste in Europa.

    Mittlerweile ist in Röttingen nicht mehr viel von dieser europäischen Stimmung zu spüren. Die Europafahne weht weiterhin vor dem Rathaus. Mittlerweile erinnert auch ein Brunnen daran. Die Urkunde hat im Rathaus ihren Ehrenplatz gefunden. Doch das Häuflein der aufrechten Europa-Befürworter wird im Laufe der Zeit immer kleiner. Elmar Düll wandert im Mai 1957 nach Kanada aus. Und in Röttingen gibt es heute kaum noch jemanden, der zu Treffen der Europa-Union ins Tauberstädtchen einlädt.

    Proklamationsurkunde

    Das Maß der Leiden der Völker Europas ist übervoll. Sie sehnen sich nach einem dauerhaften Frieden. Sie wollen ein für allemal die traurige Vergangenheit hinter sich lassen und sich ehrlichen, bereiten Herzens die Hand reichen zu einem Staatenbunde, der uns der einzige Weg zu sein scheint, Europa vor dem vollständigen Untergange zu retten. Auch wir wollen und können nicht abseits stehen und sind bereit, durch unser Beispiel den noch Zweifelnden neuen Ansporn und den Freunden Europas Rückhalt zu geben. Deshalb proklamieren wir hier feierlichst namens der Jugend Europas: Angesichts der Millionen junger Europäischer Menschen, die in wahnwitzigen Nationalkriegen Leben und Gesundheit hingeben mussten und im Hinblick auf die unermesslichen Leiden der Millionen europäischer Flüchtlinge legen wir Zeugnis ab von unserem Friedenswillen, von unserer gläubigen Bereitschaft, dem Frieden und der Freiheit der Vereinigten Staaten von Europa hier in unserem Heimatstädtchen zu dienen. In Anerkennung der Aufgeschlossenheit der Bürger Röttingens und zum Zeichen unseres festen Willens, an einem gemeinsamen Europa mitzuschaffen, erklären wir hiermit feierlich und formall Röttingen/Tauber zur E u r o p a s t a d t. Möge unser Beispiel allen Menschen Europas, die in Einigkeit und Freiheit zusammenleben wollen, einen Meilenstein bedeuten, auf dem Wege vorwärts zur Schaffung unserer großen, gemeinsamen Heimat Europa. Röttingen/Tauber am 30. August 1953

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