Einfach schlafen. Oder wenigstens ausruhen und kurz hinlegen. In der andauernden Corona-Krise fühlen sich immer mehr Menschen müde, ausgebrannt, erschöpft. Die Pandemie mit Homeoffice und Schule zuhause, mit sozialer Isolation und der ständigen Angst vor Ansteckung hat Kraft gekostet. Nur: Ab wann wird aus der schlichten Erschöpfung eine psychische Erkrankung? "Problematisch ist es, wenn man langfristig überbelastet wird", sagt Sarah Kittel-Schneider, Professorin für Entwicklungspsychiatrie und stellvertretende Direktorin der Psychiatrie an der Würzburger Uniklinik. Ein Gespräch über die Gefahr ignorierter Leistungsgrenzen, Corona als Stress-Faktor – und ein Plädoyer für den Abend auf dem Sofa.
Frage: Suchen seit Beginn der Pandemie mehr erschöpfte Menschen Hilfe bei Ihnen?
Prof. Sarah Kittel-Schneider: In die Psychiatrie der Uniklinik kommen Patienten nicht primär wegen Erschöpfungssyndromen. Betroffene suchen in der Regel erst einmal den Hausarzt auf. Was wir aber immer häufiger haben, sind Menschen, die in Zusammenhang mit Corona Depressionen oder Angststörungen entwickeln. Zudem erleben wir beim medizinischen Personal eine zunehmende Erschöpfung, vor allem bei Ärzten und Pflegekräften, die direkt mit Covid-Patienten gearbeitet haben.
Was heißt das überhaupt – ich bin erschöpft?
Kittel-Schneider: Erschöpfung an sich ist keine Erkrankung, sondern der Begriff beschreibt einen Zustand. Erschöpft ist man, wenn man körperlich und geistig müde ist und keine Kraftreserven hat.

Wo genau liegt der Unterschied zwischen Erschöpfung und psychischen Erkrankungen, beispielsweise Depressionen?
Kittel-Schneider: Eine
hat ganz klare Diagnosekriterien: Die Kernsymptome sind gedrückte Stimmung, verminderter Antrieb sowie Freud- und Interessenlosigkeit an Dingen, die Betroffenen vorher Spaß gemacht haben. Hinzu kommen oft noch Schlafstörungen oder Suizidgedanken. Diese Symptome müssen mindestens zwei Wochen lang jeden Tag auftreten.Und wie grenzt man das "Sich-erschöpft-Fühlen" vom Burnout ab?
Kittel-Schneider: Ein Burnout ist ebenfalls keine psychische Erkrankung, sondern ein Risikofaktor dafür, dass man psychisch krank wird. Er beschreibt einen Zustand von Überlastung und Überforderung, bei dem auch psychische und körperliche Symptome auftreten können. Und Erschöpfung ist ein Teil eines Burnout-Syndroms. Letztlich können Erschöpfung und Burnout in eine Depression oder Angststörung münden. Sie können aber auch körperliche Folgen haben, etwa zu einem Herzinfarkt oder Magengeschwüren führen.

Was wäre für Betroffene ein Alarmzeichen, dass eine ernsthafte psychische Erkrankung hinter der Erschöpfung steckt?
Kittel-Schneider: Vor allem durch die Freudlosigkeit kann man eine Erschöpfung von einer Depression unterscheiden. Dauerhaft schlechte Stimmung, stark verminderter Antrieb und das Gefühl, sich auf nichts mehr freuen zu können, das tritt bei einer Erschöpfung nicht auf. Zum Beispiel kann man sagen: Wenn man sich völlig erschöpft fühlt, hat dann zwei Wochen Urlaub und nach zwei, drei Tagen geht es einem deutlich besser, man ist wieder ausgeschlafen und die Stimmung steigt – dann ist es keine Depression. Eine Depression bessert sich nicht durch Urlaub. Im Gegenteil, sie wird vielleicht sogar schlimmer, wenn man nicht mehr abgelenkt ist und die Tagesstruktur wegfällt.
"Eine Depression bessert sich nicht durch Urlaub."
Prof. Sarah Kittel-Schneider, Psychiaterin an der Uniklinik Würzburg
Und was ist mit chronischer Müdigkeit, der sogenannten Fatigue?
Kittel-Schneider: Fatigue ist ebenfalls keine feststehende Diagnose, sondern der Fachbegriff für chronische Erschöpfung und Ermüdung beziehungsweise für rasche Erschöpfung, die nicht in Verhältnis zu der vorherigen Anstrengung steht. Es ist ein Syndrom, ein Zustand, der bei vielen unterschiedlichen Erkrankungen auftreten kann – etwa bei Krebs, Multiple Sklerose, Herzerkrankungen, psychischen Erkrankungen, aber auch nach Covid-19 oder anderen Viruserkrankungen wie Pfeifferschem Drüsenfieber. Deshalb muss man immer prüfen, ob es für anhaltende Müdigkeit eine körperliche Ursache gibt.

Was sollte man also konkret tun, wenn man sich stetig erschöpft fühlt?
Kittel-Schneider: Man sollte das ernst nehmen und sich fragen: Woran liegt das? Es gibt natürlich Situationen im Leben, da muss man in gewisser Weise durch – etwa, wenn ein anstrengendes Projekt im Beruf zu bewältigen ist. Aber so eine Phase löst sich irgendwann auf, dann kann ich mich entspannen, Urlaub machen und dann geht es mir besser. Problematisch ist es, wenn man langfristig überbelastet wird. Man sollte nie dauerhaft über seine körperlichen und geistigen Leistungsgrenzen hinausgehen – denn genau das kann irgendwann in einem Burnout oder einer Depression enden.
Wann genau sollte man zum Arzt gehen?
Kittel-Schneider: Wer sich dauerhaft erschöpft fühlt, sollte auf jeden Fall zum Arzt gehen und körperliche Ursachen abklären lassen. Hinter Müdigkeit oder Erschöpfung kann eben auch eine Blutarmut oder Vitaminmangel oder eine andere körperliche Erkrankung stecken. Daneben sollte man sich immer überlegen, ob es Faktoren gibt, die die Erschöpfung erklären. Als alleinerziehende Mutter von drei Kindern, die einen Halbtagsjob hat und nebenher noch den Haushalt schaffen muss, da würde ich sagen: Es gibt viele Gründe, um erschöpft zu sein. Da müsste man schauen, wie man sich Hilfe organisieren kann. Wenn es aber eigentlich keinen Grund für die Erschöpfung gibt, dann sollte man sich durchchecken lassen.
Und wenn es keinen erkennbaren Grund und keine körperliche Ursache für die Erschöpfung gibt, wann braucht man psychologische Hilfe?
Kittel-Schneider: Es kommt immer darauf an, wie schwer man durch die Erschöpfung beeinträchtig ist. Wenn man es nicht mehr schafft, zur Arbeit zu gehen, oder wenn die Wohnung vermüllt, dann liegt etwas im Argen. Dann sollte man sich schnell Hilfe holen.
Gibt es denn eine Anleitung, ein Rezept, wie man verhindern kann, dass man gerade im Corona-Alltag zu schnell erschöpft?
Kittel-Schneider: Da muss man auf die individuellen Leistungsgrenzen schauen: Was stresst den Einzelnen und was nicht? Dazu sollte man manchmal auch einen Schritt zurücktreten. Manche Menschen schaffen das gut alleine, andere brauchen therapeutische Hilfe, eine Art Coaching, weil es für sie schwierig ist, zu priorisieren und zu spüren, was ist gut für mich. Das ist sehr unterschiedlich. Die Corona-Pandemie ist sicher ein genereller Stress-Faktor für uns alle. Aber das ist etwas, das wir selber nicht ändern können. Hilfreich ist es, zu schauen, was gibt es für Bereiche in meinem Leben, in denen ich Kraft tanken, meine Ressourcen schonen und meine Akkus wieder aufladen kann?
Was kann das zum Beispiel sein? Urlaub machen war und ist im Moment ja nicht so einfach …
Kittel-Schneider: Nehmen wir zum Beispiel einen Berufstätigen, der in einem Vollzeitjob steckt, eine Familie mit drei Kindern hat und sich in zwei Vereinen engagiert. Wenn da noch die Corona-Pandemie dazu kommt, mit Homeschooling und Anspannung, kann das zu viel werden. Ich rate den Betroffenen da, Grenzen zu ziehen – und dann muss eben die Vereinstätigkeit vorübergehend wegfallen.

Wie findet man dann trotzdem seinen Ausgleich?
Kittel-Schneider: Da muss man ganz genau hinschauen: Was ist für mich wirklich noch ein Ausgleich, wo kann ich mich entspannen – und wo stresst mich mein Freizeitprogramm zusätzlich? Natürlich, wenn eine Tätigkeit Spaß macht und man erholt sich dabei, ist das sinnvoll. Häufig können aber die drei Abende pro Woche, die man vielleicht unterwegs ist, zu viel sein. Da hilft es mehr, sich mal aufs Sofa zu setzen und die Füße hochzulegen. Das ist ein generelles Missverständnis: Ja, Ausgleich ist gut – aber heutzutage neigen die Menschen dazu, sich viel zu viele Sachen aufzuladen und nie zur Ruhe zu kommen oder mal Nichts zu machen.
Gilt das auch für den Sport? Bewegung dient doch eigentlich dem Stressabbau …
Kittel-Schneider: Auch da geht es um das richtige Maß. Ich erlebe immer wieder, dass es Menschen übertreiben, bis hin zu einem Übertraining. Sport ist sicher gut, aber er sollte nicht zusätzlich unter Stress setzen. Und wenn der Körper anfängt, nicht mehr mitzumachen, sollte man dringend einen Gang runter schalten.
Dann lieber Meditation oder Yoga statt Joggen und Schwimmen?
Kittel-Schneider: Genau. Meditation, Yoga, Entspannungstraining, Achtsamkeit, das sind tatsächlich Dinge, die man leicht in den Alltag einbauen kann. Aber es ist wie gesagt auch völlig okay, mal einen Abend auf dem Sofa zu sitzen und Fernsehen zu schauen.