„Du hast meine Hand ergriffen und hältst mich; du leitest mich nach deinem Plan.“, ist zu lesen.
Es ist 8.30 Uhr. Seit zwei Stunden ist Pflegerin Claudia Vogel im Dienst, als sie das Zimmer im Seniorenheim der Arbeiterwohlfahrt in Marktbreit betritt. Routiniert geht die stets gut gelaunte Pflegerin ihrer Arbeit nach. Sie bringt den Bewohnern Frühstück, wäscht und bekleidet sie, wechselt Bettwäsche und Laken. Jeder Handgriff sitzt. Ein ganz normaler Freitagmorgen im Seniorenheim, so scheint es.
Doch der Schein trügt. Während dieser Frühschicht hat Claudia Vogel einen Helfer an ihrer Seite, der für gewöhnlich wohl eher hinter einem Schreibtisch als in einem Pflegeheim anzutreffen ist. Es handelt sich um den Winterhäuser Bürgermeister Wolfgang Mann. Im Rahmen der „Aktion Rollentausch“, die die AWO Unterfranken organisiert, übernimmt er für einen Tag die Aufgaben eines Altenpflegers.
„Mit diesem Projekt möchte die AWO die Entscheidungs- und Kostenträger von sozialen Einrichtungen einladen, sich direkt vor Ort ein Bild über die Zustände in einer solchen Einrichtung machen zu können.“, erklärt Katrin Ahne, Leiterin des Marktbreiter Seniorenheims.
Seit 6.30 Uhr ist Wolfgang Mann nun schon in seiner neuen Rolle als Altenpfleger unterwegs. Zwei Bewohner hat er zusammen mit Claudia Vogel an diesem Morgen bereits versorgt, als er das Zimmer betritt, in dem das Bild mit den Winterhäuser Gebäuden und dem Bibelpsalm an der Wand hängt. Ein selbst gebastelter Jubiläumskranz, den eine dreistellige Zahl ziert, sowie ein Zeitungsausschnitt vom vergangenen November runden die Wanddekoration ab und verraten Alter und Herkunft der Person, die dort putzmunter im Bett liegt und auf ihr Frühstück wartet. Johanna Hellfritsch ist ihr Name. Geboren in Mainz, zuletzt wohnhaft in Winterhausen und stolze 100 Jahre alt.
„Ich mache das nicht, um Prestige zu gewinnen, sondern weil es mir wichtig ist“
Wolfgang Mann Bürgermeister in Winterhausen
Welche Ironie des Schicksals, dass nun ausgerechnet der Bürgermeister des Ortes, in dem die Seniorin bis zu ihrem Einzug ins Pflegeheim lebte, für ihr Frühstück verantwortlich ist. Serviert wird in Würfel geschnittenes Marmeladenbrot. Stück für Stück nimmt Wolfgang Mann das Brot vom Teller und führt es behutsam zum Mund der pflegebedürftigen Frau. Er spricht zu ihr, streicht ihr sanft über den fast kahlen Kopf.
Der Kommunalpolitiker nimmt seine Aufgabe ernst, das merkt man ihm an. Obwohl die „Aktion Rollentausch“ offiziell bereits am 2. Mai endete, bestand Wolfgang Mann darauf, trotzdem noch teilnehmen zu dürfen. „Ich mache das nicht, um Prestige zu gewinnen, sondern weil es mir wichtig ist.“, erklärt das Winterhäuser Ortsoberhaupt, das auch in Zukunft wieder an dieser Art Rollentausch teilnehmen möchte.
„Ich glaube, in kaum einem anderem Beruf bekommt man so viel von den Menschen zurück, wie im Beruf des Altenpflegers. Die Dankbarkeit der pflegebedürftigen Menschen ist unglaublich groß.“, fügt Wolfgang Mann hinzu, der nach seinem Zivildienst in einem Würzburger Altenheim selbst mit dem Gedanken gespielt hatte, den Beruf des Altenpflegers zu erlernen.
Reges Treiben herrscht im Aufenthaltsraum des Pflegepersonals. Es riecht nach Kaffee. Frischer Kuchen steht auf dem Tisch. Für die Pflegerinnen ist es an der Zeit sich eine kurze Verschnaufpause bei einer Tasse Kaffee und einem Stückchen Kuchen zu gönnen. Man tauscht sich aus über das neue Pflegeheim in Giebelstadt und diskutiert über den möglichen Bau eines solchen in Sommerhausen, bevor es wieder zurück an die Arbeit geht.
Johanna Hellfritsch wartet bereits ungeduldig in ihrem Bett, als Claudia Vogel und Wolfgang Mann in ihr Zimmer zurückkehren. Die 100-jährige Seniorin, die keinerlei Medikamente benötigt, soll gewaschen und angezogen werden. Zunächst gilt es jedoch Pflegeschürzen- und -handschuhe überzuziehen, warmes Wasser und Tücher zu holen.
Winterhausens Bürgermeister weiß, was zu tun ist. Er beginnt Gesicht, Hände und Arme der Senioren zu waschen und mit einem Handtuch vorsichtig abzutrocknen. Unter Anleitung von Claudia Vogel zieht er Johanna Hellfritsch behutsam das Nachthemd aus und beginnt ihren Oberkörper zu waschen, abzutrocknen und einzucremen, während er ihr immer wieder beruhigende Worte zuredet.
Interessiert lauscht Wolfgang Mann den Worten der Altenpflegerin und folgt konzentriert ihren Anweisungen, ohne mit der Wimper zu zucken. Berührungsängste kennt er dabei nicht. Die wären in diesem Beruf ohnehin fehl am Platz. Von oben nach unten wird Frau Hellfritsch gewaschen, abgetrocknet und eingecremt. Auch bei Rücken, Unterleib, Beinen und Füßen wird nach dem bewährten System vorgegangen: Claudia Vogel gibt die Anweisungen, Wolfgang Mann führt sie aus –- wobei die Pflegerin selbstverständlich auch mit anpackt und aufpasst, dass alles richtig gemacht wird.
Kaum ist Johanna Hellfritsch fertig gewaschen, eingecremt und angezogen, da wartet auch schon die nächste Bewohnerin darauf, von Claudia Vogel und Wolfgang Mann versorgt zu werden. Es wird nicht die letzte Person sein, um die sich die beiden bis zum Schichtende um 13 Uhr kümmern müssen. Eben ein fast ganz normaler Freitagmorgen im Seniorenheim Marktbreit.