Sie ist als eine der schwersten Folgen von Covid-19 in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt: die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, oft mit ME/CFS abgekürzt. Gegen die schwere chronische Erkrankung gibt es bislang kein Medikament. Am Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) der Uniklinik Würzburg erproben Forscher nun im Rahmen einer Studie ein Schulungsangebot für betroffene Kinder und Jugendliche.
Denn junge Menschen erkranken zwar seltener als Erwachsene, "aber sie sind oft schwer betroffen", sagt SPZ-Leiterin, Prof. Juliane Spiegler. Im Interview beschreibt die Kinderärztin Strategien, Lücken in der Patientenversorgung und die fatalen Folgen, wenn Patienten Ressourcen kosten, die von den Kassen nicht finanziert werden.
Frage: Was weiß man bisher über die Ursachen von Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom? Und darüber, was da im Körper passiert?
Prof. Juliane Spiegler: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Man weiß, dass bei ME/CFS eine Fehlregulation des Immunsystems vorliegt. Es gibt auch Hinweise, dass die Mitochondrien beeinträchtigt sind und die Interaktion des Immunsystems mit den Nervenzellen scheint eine Rolle zu spielen. Was allerdings ganz genau im Körper abläuft, wissen wir nicht. Sicher ist, ME/CFS kann durch unterschiedliche Infektionserkrankungen ausgelöst werden zum Beispiel eine Grippe, Pfeiffersches Drüsenfieber oder eben Corona.
Betroffene leiden unter extremer Erschöpfung. Wie unterscheidet sich die von normaler Müdigkeit?
Spiegler: Wenn Sie nach einem Marathon erschöpft sind, legen Sie sich ins Bett und erholen sich. Menschen mit ME/CFS können ihre Energie nicht einfach wieder auffüllen. Für schwer Betroffene sind häufig bereits geringste Anstrengungen wie Haare kämmen oder Duschen zu viel. Zudem treten Überlastungserscheinungen bei Betroffenen häufig nicht sofort auf, sondern mit Verzögerung und halten ungewöhnlich lange an. Sprich: Die Menschen erholen sich einfach nicht.
Ist der Umgang mit einer solchen Erkrankung für Kinder schwieriger als für Erwachsene?
Spiegler: Kinder und Jugendliche sind nach Covid-19 seltener betroffen als Erwachsene – aber die Erkrankung tritt in einer sensiblen Entwicklungsphase auf. Sie werden gerade unabhängig und selbstständig und plötzlich benötigen sie wieder für alles Unterstützung. Das ist oft schwer zu akzeptieren. Und häufig sind gerade die Menschen, die an ME/CFS erkranken, vorher sehr aktiv gewesen.

Welche Therapien und Medikamente gibt es bisher?
Spiegler: Es gibt kein Medikament, das die Erkrankung heilen kann. Wir können nur einzelne Symptome wie zum Beispiel Kreislaufprobleme, Schmerzen oder Schlafstörungen behandeln. Das ist für die betroffenen Kinder und Jugendlichen und die Eltern schwer zu akzeptieren.
In Zusammenarbeit mit der TU München schulen Sie jetzt junge Patientinnen und Patienten und deren Eltern. Wie funktioniert das?
Spiegler: Wie bei allen chronischen Erkrankungen werden die Kinder und Jugendlichen meist von der Diagnose "überrollt" und müssen dann lernen, sich damit zu arrangieren. Wir zeigen ihnen dafür Strategien. So geht es zum Beispiel darum, "Energieräuber" zu identifizieren und umgekehrt Möglichkeiten zu finden, wie sie ihren "Akku" wieder aufladen können. Wir leiten die Teilnehmer an, Tagebuch zu führen und dadurch zu erkennen, was Überlastungssituationen auslöst und wie man sie verhindern kann. Eine wichtige Technik dabei ist das sogenannte Pacing.
Was ist damit gemeint?
Spiegler: Pacing bedeutet, mit der eigenen Energie so hauszuhalten, dass man die Belastungsgrenze nicht überschreitet. Denn wenn Patienten diese Grenze überschreiten, kommt es zu einem "Crash", die Erkrankung verschlechtert sich akut und eventuell lange anhaltend.
Verbessern die Schulungen nur den Umgang mit der Erkrankung oder tatsächlich auch den Zustand?
Spiegler: Das bedingt sich gegenseitig. Wenn ich nicht ständig meine Grenze überschreite und damit solche Crashs verhindere, wird ein positiver Verlauf unterstützt. Ganz praktisch bedeutet das: Patienten müssen ihren Alltag planen, Pausen einlegen und vorab entscheiden, welche Termine wichtig sind und sich an den Tagen davor möglichst wenig vornehmen.

Es geht also darum, Prioritäten zu setzen?
Spiegler: Genau. Das ist ein anderer Ansatz als sonst in der Rehabilitationsmedizin üblich. Dort wird versucht, an die Belastungsgrenze zu gehen und sie immer weiter zu verschieben. Beim Pacing sollen nur so viel Energiereserven aufgebraucht werden, dass kein "Crash" eintritt. Daneben arbeiten wir viel mit Entspannungs- oder Atemübungen als mögliche "Energiegeber".
Warum werden auch die Eltern, Geschwister und Lehrkräfte geschult?
Spiegler: Eltern müssen verstehen, was wir den Kindern beibringen und sie müssen auf sich selbst aufpassen. Wenn man plötzlich ein krankes Kind zuhause hat, führt das schnell dazu, dass man sich aufreibt und dadurch das betroffene Kind nicht so gut unterstützen kann. Auch Geschwister leiden darunter, wenn plötzlich alle Aufmerksamkeit dem kranken Kind gilt.
Die Studie hat Teilnehmer bis zum Alter von 20 Jahren. Was kommt danach?
Spiegler: Wir nutzen unser interdisziplinäres Team zur Betreuung der Kinder mit ME/CFS. Grundsätzlich fordern die Sozialpädiatrischen Zentren, dass wir insbesondere in der Phase der Ausbildung die Betroffenen nach dem 18. Geburtstag betreuen können - analog zur Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das gilt insbesondere für Patientengruppen, bei denen lokal keine geeignete interdisziplinäre, multiprofessionelle Weiterbetreuung vorhanden ist. Aktuell wird dies von den Krankenkassen abgelehnt. Deswegen wollen wir in diesem Forschungsprojekt gerade für diese Gruppe aufzeigen, dass diese Versorgung wichtig und effektiv ist. Eine ähnliche Einrichtung gibt es im Erwachsenenbereich in Würzburg nicht. Das nächstgelegene Zentrum für Erwachsene mit Post-Covid-Syndromen ist in Erlangen, das Referenzzentrum für ME/CFS ist in der Charité in Berlin. Deshalb versuchen wir, ein Versorgungsmodell zu entwickeln, das sich auf andere Sozialpädiatrische Zentren übertragen lässt. Ein Problem ist aber, dass der Behandlungsaufwand von den Krankenkassen nicht gedeckt wird.

Was heißt das?
Spiegler: Das heißt, die Patienten kosten Ressourcen, die von den Kassen nicht finanziert werden. An ME/CFS erkrankte Kinder benötigen zahlreiche Termine bei Ärzten, Psychologen, Physiotherapeuten oder Sozialpädagogen. Man braucht ein ganzes Team zur Betreuung und das teilweise wöchentlich. Dieser Aufwand ist aber im System nicht abbildbar und führt zu Frustration auf beiden Seiten: Die Patienten wünschen eine intensivere Behandlung durch die Experten, diese können aber nur in begrenztem Maße den Rahmen überschreiten, der von Krankenkassen refinanziert wird. Aktuell fließt viel unbezahltes "Eigenengagement" in die Behandlung der Patienten.
Welche Rolle spielt es, dass die Krankheit häufig nicht anerkannt wird?
Spiegler: Das ist auch ein Teil des Studienprojektes. Vor Ort gibt es für die Erkrankten oft keine Betreuung, keine auf ihr Krankheitsbild ausgerichtete Behandlung. Deswegen haben wir eine Homepage aufgebaut, auf der wir Informationen für verschiedene Fachgruppen bieten.
Braucht es ähnliche Studien und Schulungen für Erwachsene?
Spiegler: Das wäre ein Traum. Erwachsene haben andere Bedürfnisse als Kinder, aber unser Grundgerüst ließe sich für Studien im Erwachsenenalter sicher nutzen.
Studie und Schulungen für Kinder und Jugendliche mit ME/CFSDie Schulungen am Sozialpädiatrischen Zentrum der Uniklinik Würzburg erfolgen innerhalb des Forschungsprojekts "Bayerisches Netzwerk zur Erforschung von ME/CFS (BAYNET FOR MECFS)". Dabei kooperieren die Unikliniken München und Würzburg, gefördert vom Bayerischen Wissenschaftsministerium.Geschult werden können Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis zu einem Alter von 20 Jahren. Voraussetzung ist, dass ihre Diagnose im MRI Chronische Fatigue Centrum für junge Menschen (MCFC) an der TU München bestätigt wurde und sie an dem Projekt BAYNET FOR MECFS teilnehmen. Informationen zum Schulungsangebot: https://www.ukw.de/spz/mecfsQuelle: Uniklinik Würzburg/sp