Ausgangssperren, menschenleere Straßen, strenge Kontaktregeln, Maskenpflicht: Vieles, was im ersten Corona-Lockdown 2020 den Alltag bestimmte, scheint heute fast surreal. Was war richtig, was falsch? Um das aufzuarbeiten, müsse endlich eine Enquete-Kommission eingesetzt werden, fordert Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und Infektiologe aus Würzburg. Im Gespräch erklärt der Medizin-Professor, warum für ihn die Diskussion um die Impfpflicht keine Sternstunde der Politik war und weshalb er einen Bürgerrat zur Aufarbeitung ablehnt.
Frage: Herr Ullmann, mit dem Wissen von heute: Waren manche Maßnahmen in der Corona-Pandemie überzogen?
Prof. Andrew Ullmann: Ja, wobei man je nach Zeitpunkt unterscheiden muss: Die Kontaktbeschränkungen zu Beginn der Pandemie waren richtig, weil niemand die Folgen von Infektionen abschätzen konnte. Eine Maskenpflicht im Freien oder auch die Schulschließungen hingegen waren im Rückblick nicht sinnvoll.
Ist das die Einschätzung des Infektiologen oder des Politikers?
Ullmann: Das lässt sich nicht trennen. Grundsätzlich gibt es in der Beurteilung der Corona-Maßnahmen kein schwarz-weiß, nicht die richtige oder die falsche Maßnahme. Im Nachgang kann man vieles als falsch bezeichnen, was der ein oder andere – auch ich – schon damals kritisiert hat. Ein Beispiel ist in Bayern die Ausgangssperre ab 22 Uhr. Wichtig wäre herauszufinden, wie die Politik damals zu Entscheidungen gekommen ist.
Wurde zu viel hinter verschlossenen Türen verhandelt?
Ullmann: Die Entscheidungsfindung hätte transparenter sein müssen. Aus meiner Sicht ist es bedenklich, wie phasenweise der Bundestag nicht einbezogen wurde.
Sie fordern eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung. Was könnte die leisten?
Ullmann: In einer solchen Kommission können die Wege der Entscheidungsfindung aufgearbeitet werden. Aufgabe ist es, das, was in der Vergangenheit passiert ist, kritisch zu bewerten und konkrete Handlungsempfehlungen für die Zukunft abzuleiten. Denn klar ist: Wir müssen für die nächste Pandemie besser vorbereitet sein.

Sind wir das denn? Haben wir aus der Pandemie gelernt?
Ullmann: Seit der Pandemie wurde der öffentliche Gesundheitsdienst deutlich gestärkt. Damals wurden die Meldungen ans Robert Koch-Institut teilweise per Fax geschickt, das darf nicht mehr vorkommen. Aber auch während der Pandemie gab es gute Erfahrungen: Schnelle Diagnostik musste und konnte stattfinden, die neuen Impfstoffe waren ein Quantensprung in der Vorbeugung. Also ja, insgesamt sollten wir besser aufgestellt sein, aber optimal ist es bei weitem noch nicht.

Und wie sehen Sie aus heutiger Sicht die Diskussion um eine Impfpflicht?
Ullmann: Das war mit Sicherheit keine Sternstunde der Politik. In der Diskussion wurde fälschlicherweise behauptet, dass die Impfung vor Infektionen schützt – wobei sie "nur" das Risiko einer Erkrankung reduziert. Ziel einer Impfung war immer, die Krankenhauseinweisungen zu reduzieren. Erinnern Sie sich: Intensivstationen konnten die Zahl der Covid-Erkrankten teilweise nicht bewältigen. In der Diskussion ging es um eine allgemeine Impfpflicht – diese habe ich nicht befürwortet, sondern nur für Risikogruppen. Mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht wollte man erreichen, dass sich Mitarbeiter von Kliniken oder Pflegeheimen nach einer Corona-Infektion schneller erholen und kein Personalmangel entsteht. Das war wichtig, deshalb war ich dafür.
Würden Sie heute wieder so entscheiden?
Ullmann: Als Arzt und Politiker bin ich Befürworter von Impfungen. Damals war ich nicht für eine allgemeine Impfpflicht, aber für eine verpflichtende Aufklärung und gegebenenfalls für eine nachfolgende Impfpflicht für bestimmte Risikogruppen.
Gab es die? Wurde die Bevölkerung hinreichend über Risiken der Corona-Impfung aufgeklärt?
Ullmann: Manche Politiker haben damals in Interviews gesagt, die Impfstoffe hätten keine Nebenwirkungen. Das war falsch, man nimmt die Leute damit nicht ernst und verliert Glaubwürdigkeit. Auch in meinen Vorlesungen sage ich: Ein Impfstoff ohne Nebenwirkungen ist möglicherweise kein guter Impfstoff.
"Mir persönlich waren die Expertenkommissionen manchmal zu einig."
Andrew Ullmann, FDP-Politiker, über Meinungsvielfalt in der Pandemie
Hat die Politik die Wissenschaft genutzt oder auch missbraucht?
Ullmann: Missbraucht nicht, soweit würde ich nicht gehen. Nur waren mir persönlich die Expertenkommissionen manchmal zu einig. Man hätte akzeptieren können und müssen, dass es verschiedene Meinungen gibt. Und auch die Praktiker, die Psychologen, Soziologen, Pädagogen haben mir in den Kommissionen gefehlt.
Wer müsste jetzt, bei der Aufarbeitung, ran und in einer Enquete-Kommission sitzen?
Ullmann: Eine solche Kommission setzt sich zur Hälfte aus Politikern und Fachleuten zusammen. Es wäre verkehrt, nur Mediziner reinzunehmen. Wir müssen die Pandemie mit all ihren Auswirkungen betrachten, von der Wirtschaft über die Schulen bis zum politischen Prozess. Hier geht es vor allem um die Frage: Waren die Entscheidungen so demokratisch, wie unsere Verfassung das verlangt? Der Staat muss Maßnahmen zum Schutz der Gesamtbevölkerung rechtfertigen.

Sollten auch Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden?
Ullmann: Das wäre denkbar. Ich bin kein Freund eines Bürgerrates, das würde die Aufarbeitung verwässern. Wir haben im Bundestag mit der Enquete-Kommission die nötigen Instrumente. Aber man könnte durchaus Betroffene reinholen – etwa Menschen mit Long-Covid oder Post-Vac-Syndrom. Oder Menschen, die erleben mussten, wie Angehörige isoliert und einsam gestorben oder mangels Schutzvorkehrungen an Covid gestorben sind. Oder Eltern, deren Kinder die ersten zwei Schuljahre vor allem am Bildschirm verbracht haben.
Wie dringen Sie mit Ihrem Vorschlag einer Enquete-Kommission in der Ampel-Regierung durch?
Ullmann: Meine Fraktion steht zu 100 Prozent dahinter, das ist ein Fraktionsbeschluss. Eine Enquete-Kommission könnte problemlos bis zum Ende der Legislaturperiode Ergebnisse vorlegen. Die beiden Ampel-Partner bevorzugen die Idee eines Bürgerrates als repräsentative Versammlung – diese Idee lehne ich mit dem Blick auf die Verantwortung ab. Die Verantwortung lag bei den Politikern, entsprechend müssen diese auch die politische Aufklärung angehen. Ansonsten wäre es in meinen Augen eine politische Nebelkerze.