Sie sind die unberechenbaren Größen im aktuellen Corona-Management: Mutationen des Virus, wie sie in Großbritannien, Südafrika und Brasilien aufgetreten und mittlerweile auch in der Region Mainfranken angekommen sind. Wie die Mutanten einzuschätzen sind und was das für die Gegenmaßnahmen bedeutet – dazu beantwortet der Würzburger Infektiologe und Tropenmediziner Prof. August Stich vom Klinikum Würzburg-Mitte die wichtigsten Fragen. Stich arbeitet unter anderem am Robert Koch-Institut (RKI) im "Ständigen Arbeitskreis der Kompetenz- und Behandlungszentren für Krankheiten durch hochpathogene Erreger" (STAKOB) mit.
Wie ansteckend sind die Mutationen im Vergleich zum "Original"-Virus?
Das ist pauschal schwer zu beurteilen, weil jede Mutation ihre eigenen Eigenschaften hat. Und es dürften in nächster Zeit noch etliche neue Mutanten hinzukommen. Laut Stich erleben wir hier "hautnah" Evolution, und das bedeutet ständige Veränderung: "Die Viren passen sich an, und sie werden in der Regel leichter übertragbar." Dies liege in der Natur eines Virus: Es passt sich der Umgebung an, um besser überleben zu können.
Ist deshalb eine Virus-Mutation für den Menschen gefährlicher?
Nein, nicht von vorneherein, und bei der Veränderung des Coronavirus scheint eher das Gegenteil der Fall. Als Arzt in der Klinik erlebt August Stich tendenziell immer mehr Patienten mit einem positiven Befund, aber fast keinen Symptomen. Nach seiner Einschätzung spricht dies für die stärkere Verbreitung von Mutationen. Untersucht werden Virenproben auf Mutationen aktuell aber nur stichprobenartig in besonderen Fällen wie etwa bei Corona-Ausbrüchen in Heimen.

Könnten auch Mutationen auftreten, die zu schweren Verläufen führen?
Theoretisch ist dies denkbar. Es liegt aber nicht unbedingt in der Natur eines Virus. Dessen Hauptziel ist laut Stich eine möglichst starke Verbreitung. Deshalb wolle das Virus seinen Wirt, hier den Menschen, eigentlich möglichst wenig beeinträchtigen: "Stellen Sie sich ein Virus vor, das jeden sofort töten würde – dann wäre das für das Virus eine Sackgasse."
Kann ich an den Symptomen erkennen, ob es sich um eine Mutation handelt?
Nein. Es bleibt nur die Mutmaßung bei sehr milden Symptomen oder wenn gar keine Symptome wie Halskratzen, Kopfschmerzen, Fieber oder Geschmacksverlust auftreten. Fällt ein Corona-Test dennoch positiv aus, sollte man Stich zufolge durchaus an ein mutiertes Virus denken. Einen zwingenden Zusammenhang zwischen Symptomen und Mutation gebe es aber nicht.

Müssen wir angesichts der Mutationen bei den Corona-Maßnahmen umdenken?
Oberstes Ziel bleibt für die Infektiologen derzeit, die Ausbreitung des Virus möglichst effektiv zu bremsen. Denn selbst wenn eine Mutante zu weniger schweren Verläufen führt: Hohe Infektionszahlen aufgrund der stärkeren Ansteckung könnten am Ende die Intensivstationen dennoch überlasten. Stich: "Deshalb sind die Abwehrmaßnahmen nach wie vor wichtig. Man darf jetzt nicht zu schnell herunterfahren." Weiterhin brauche es Abstand, Hygiene und Maske.
Was unterscheidet die aktuell bekannten Virus-Mutationen?
Abgesehen von den Unterschieden in ihren Strukturen fehlt es bislang an belastbaren Studien zu den spezifischen Wirkungen. Allerdings gibt es erste Erfahrungswerte aus anderen Ländern. Beispiel Brasilien: Dort bringt Stich zufolge die aufgetretene Virus-Variante wegen ihrer starken Ausbreitung das Gesundheitssystem zum Kollabieren.

Sind alle Altersgruppen gleichermaßen von den neuen Viren betroffen?
Auch hier gibt es noch kein klares Bild. Erste Hinweise, dass die Mutationen sich bei Kindern stärker verbreiten als das ursprüngliche Virus, hält der Würzburger Experte für plausibel. Auf der Suche nach einer besseren Übertragbarkeit finde das Virus auf der kindlichen Schleimhaut einen guten Angriffspunkt. Man denke an die klassischen Erkältungskrankheiten, die sich in Kindergärten und Schulen leicht verbreiten. Deshalb, so Stich, gelte es vor der möglichen Öffnung von Einrichtungen gut abzuwägen und auf mehr wissenschaftliche Daten zu warten.
Sollten die Corona-Maßnahmen wegen der höheren Ansteckung gar verschärft werden?
Die politische Diskussion über mögliche Lockerungen nimmt angesichts sinkender Inzidenzwerte gerade an Fahrt auf. Doch Infektiologen wie August Stich warnen vor voreiligen Schritten. Eine weitere Verschärfung der Schutzmaßnahmen wegen der höheren Ansteckungsgefahr hält er allerdings nicht für geboten. Mit der konsequenten Einhaltung der geltenden Hygienemaßnahmen sei es wohl möglich, die Infektionszahlen in einen "grünen" Bereich zu senken.

Wirken die angelaufenen Impfungen auch gegen die Mutationen?
Erste Erkenntnisse deuten stark darauf hin. Die Impfung scheint laut Stich einen breiteren Schutz gegen Coronaviren aufzubauen als eine durchgemachte Infektion. Diese schützt gegen eine einzige Variante – eine Impfung dagegen, so bisherige Ergebnisse, trifft Virusmutationen auch in einer größeren Zahl. "Sie baut einen breiteren Schutzschild auf, auch benachbarte Mutanten werden mit abgewehrt." Sollten die Mutationen fortschreiten, könnten manche der Impfstoffe auch vergleichsweise einfach nachgebessert werden.
Liegt es an den Mutationen, dass die Infektionszahlen nicht noch schneller sinken?
Das mag auf die Entwicklung einen gewissen Einfluss haben. Jedoch, so die Wahrnehmung Stichs, werde der laufende Lockdown von vielen nicht in letzter Konsequenz vollzogen. "Die Leute sind müde, ausgelaugt. Deshalb ist nicht mehr der Spirit vorhanden wie im April, als man gemeinsam den Kampf gegen die Pandemie aufgenommen hat."