Norbert Bertheau ist 80 Jahre alt. Vor drei Jahren hat er sich mit Andreas Büettner und Karolin Benker junge Leute in die Theaterleitung geholt. Ein Gespräch über Sorglosigkeit, Selbstvernichtung, Möglichkeiten und das Gute am Prekären.
Frage: 25 Jahre ist das Theater Ensemble alt und immer noch chaotisch. Können Sie uns erklären, was Sie da treiben?
Andreas Büettner: Norbert Bertheau hat Experimente gemacht, manchmal ein bisschen Boulevard, dann etwas Studentisches und was Ernsthaftes. Das ist ein Problem, finde ich, weil es keine Klarheit gibt. Die Leute wollen ja wissen, was sie haben. Es funktioniert manchmal, dann ist das Haus voll, und manchmal kommt keiner, und man kann es nicht richtig eruieren, woher es kommt.
Was treibt Sie, Norbert Bertheau?
Norbert Bertheau: Die Faszination Theater. Von Jugend an bin ich regelmäßig ein Theatergänger gewesen. Vor 35 Jahren habe ich einen Theater-Workshop mitgemacht, in der Toskana. Als ich zurückkam, traf ich den Wolfgang Schulz (Anm. d. Red.: den Macher der Theaterwerkstatt, später Werkstattbühne, in der Rüdigerstraße 4) und der fragte mich, ob ich Lust hätte zu spielen. Ja, hatte ich. Dann waren wir zwei Jahre beim Schulz und dann gab es eine kleine Revolution.
Teile des Ensembles hatten sich mit Schulz überworfen. Oder er sich mit Teilen des Ensembles.
Bertheau: Wir gingen in die Sartoriusstraße, in den Pferdestall, und haben den Namen „Theaterwerkstatt“ mitgenommen. Später nannten wir uns dann „Theater 87“. Während ich da spielte, hatte ich schon die Idee, selbst ein Theater zu machen. Und dann wurde das Bürgerbräu-Gelände frei. Ich wurde zur Besichtigung eingeladen, habe die Räume hier gesehen und den Finger gehoben. Und dann war ich drin. Im Herbst '91 war das. Und dann haben wir angefangen mit dem Rumpfensemble vom Salon 77. Dann ging es voran mit verschiedenen Regisseuren – der Hans-Günther Butzko war da und der Wilfried Happel – und so ging es weiter. Bis vor drei Jahren habe ich es alleine geleitet. Aber die Existenz des Theaters ist nur möglich, weil wir mit einer jährlichen Unterstützung vom Kulturamt der Stadt rechnen können.
„Faszination fürs Theater“ klingt so beliebig. Geht das präziser?
Bertheau: Nö.
Aber was wollen Sie erzählen? Gibt es ein Motiv, das immer mitschwingt? Eine Botschaft?
Bertheau: Nein. Nein.
Karolin Benker: Ich glaube, was Norberts grundgute Sache ist, dass er so eine Art Theatermacher im Sinne von Ermöglicher ist. Es gab im Theater Ensemble ganz viele Möglichkeiten für mich, weil ich ambitioniert war. Ich konnte hinter dem Tresen stehen, mitspielen, die Regieassistenz machen, die Requisiten, weil Norbert das zugelassen hat. Und je mehr man bereit war, sich einzubringen und je länger man hartnäckig dabei geblieben ist, desto größer wurden die Möglichkeiten.
Bertheau: Schön gesagt.
Benker: Wenn mir politisch etwas wichtig war, habe ich Norbert gefragt: Kann ich das machen? Und er hat gesagt: Ja, klar, mach das. Das ist Norberts großes Ding, dass er was aufmacht, wo jeder, der Kraft hat und Lust, sich das nehmen und was bauen kann.
Büettner: Das Wesentliche am Norbert ist die Begeisterungsfähigkeit. Er braucht etwas Geistvolles, etwas Kluges, und …
Bertheau: Genau!
Büettner: … letztendlich hat er bewährte Sachen gemacht und abenteuerliche neue Inszenierungen und studentische Experimente. Aber das Wesentliche war immer, dass es ihn begeistert hat.
Ist das der Grund, warum Sie aus Berlin an ein so kleines Theater in der Provinz gegangen sind?
Büettner: Das ist das freieste Theater, das ich kenne! Und ich bin wirklich viel herumgekommen, in den Subventionstheatern und in den freien Theatern. Letztendlich gibt es bei Norbert immer den offenen Raum.
Macht das Theater Ensemble heute etwas wesentlich anders als früher?
Bertheau: Eigentlich nicht.
Büettner: Es war so geboren und ist so geflossen. Die größte Veränderung ist, was sich jetzt auf dem Bürgerbräu-Gelände tut. Wenn das nicht gewesen wäre, wären wir (Büettner und Benker, d. Red.) wohl nicht eingestiegen.
„Freies Theater“ und „offener Raum“ sind ebenfalls beliebig. Da kann man auch Blut-und-Boden-Schmonzetten von Nikolaus Fey und „Charlys Tante“ spielen.
Bertheau: Nein. Der Freiraum wird beschränkt durch den Anspruch, den wir haben.
Was ist das für ein Anspruch?
Bertheau: Weiß ich nicht.
Büettner: Aber ich kann es sagen! Es geht um Dinge, die relevant sind in der gegenwärtigen gesellschaftlichen oder politischen Situation.
Benker: Unsere persönlichen Ansprüche sind verschieden. Als ich hier angekommen bin, hatte ich einen extrem politischen Anspruch. Mittlerweile habe ich mehr meine persönlichen Themen reingelegt. Wichtig war für mich zum Beispiel, feministische Themen anzusprechen. Was grundsätzlich ist, wo wir uns beraten, ist, dass es nicht sexistisch ist, das es nicht antisemitisch in den Stücken zugeht und auch nicht rassistisch.
Die freie Kulturszene hat sich in den 1980er Jahren, ihrem Geburtsjahrzehnt in Würzburg, viel mehr eingemischt als heute und für viel mehr Aufregung gesorgt. Sie war politischer und aggressiver. Warum ist sie brav geworden?
Büettner: Wir teilen diese Erfahrung. Sobald man wirklich auf den Punkt kommt, bleiben die Ränge leer. Das ist Selbstvernichtung, wenn man es konsequent betreibt. Es ist nicht mehr zu vergleichen. Es gibt viel mehr Angebote und vieles ist letztendlich auch schon aufgeklärt. So einen Aufklärungsstand wie heute gab es noch nie. Alle wissen Bescheid und trotzdem geht es so weiter.
Dann ist das Theater Ensemble ein immer gleich pulsierender, chaotischer Stern in einem sich ständig verändernden Universum?
Bertheau: Da muss man nur die schwarzen Limousinen auf dem Bürgerbräu-Parkplatz sehen.
Benker: Es ist nicht so, dass wir gar nicht unsere Meinung sagen. Ich empfinde mich als politisch und in meinen Stücken schwingt es auch mit, aber ich finde es auch gut, dass Theater sich nicht in jedem Moment zu allem äußert, sondern offen bleibt.
Büettner: Das ist Karos Impuls. Ich bin pur Theater. Ich habe früher mehr auf den Putz gehauen. Aber ich habe gemerkt, dass das verwirrt hat. Dann habe ich mal einen Ibsen zwar modernisiert, aber Ibsen sein lassen. Da waren die Leute wesentlich offener, sich drauf einzulassen. Der Ibsen sagt schon genug aus und ich brauche nicht noch eins draufzusetzen. Dann kommen mehr Leute, die zuhören.
Benker: Ich habe auch den Eindruck, dass es in meiner Generation – Jahrgang 87 oder jünger – schon politische Menschen gibt, aber die haben das Theater als politischen Ort nicht mehr auf dem Schirm. Als Wirkungsmechanismus, der sich einmischt und etwas zu sagen hat, nehmen sie das gar nicht mehr wahr.
Büettner: Wir machen auch politisches Theater, aber wir deklarieren es nicht. Das würde abschrecken.
Sie arbeiten fürs Theater. Kann man davon leben?
Büettner: Als wir Norbert sagten, wir würden einsteigen, sagten wir, wir brauchen mindestens Hartz IV-Niveau, damit wir nicht noch irgendwo jobben müssen. Aber wir haben wenig. Man muss wahnsinnig viel arbeiten. Klo putzen, bohren, schaufeln und umschichten, das machen nicht viele für fast nichts. Die 80er-Zeiten und die 90er-Zeiten, die sind vorbei.
Hat das Theater Ensemble ein festes Ensemble?
Bertheau: Man kann sagen: einen inneren Kreis von zirka 25 Leuten.
Büettner: Im Laufe der 25 Jahre waren es bestimmt eher 250.
Benker: Manche kommen für ein Jahr, andere sind seit 15 Jahren und länger dabei.
Büettner: Im Theater Ensemble gibt es keine Gagen für die Leute, die spielen. Ich glaube nicht, dass das irgendwo anders funktionieren würde. Das hat mit Norbert Bertheau zu tun und ich weiß nicht, ob wir es schaffen werden, das zu übernehmen.
Benker: Es ist richtig viel Zeit, die die Menschen investieren. Das sind bestimmt fünf Wochen Proben und in der Woche vor der Premiere fängt man um 17 Uhr an und geht um halb zwölf nach Hause. Natürlich sind alle erschöpft und sagen: Boah, ich muss noch arbeiten. Aber es ist niemand, der sagt: Ich mach das nicht.
Was sind das für Leute?
Büettner: Ein Oberarzt von der Psychiatrie zum Beispiel, Kinder aus Bergtheim, Rentner, Arbeitslose, Theologen, Studenten sowieso. Die Altersspanne reicht von sechs bis 82 Jahre.
Norbert Bertheau, wie machen Sie das? Geben Sie den Leuten was in den Kaffee?
Bertheau: Die Getränke sind frei. Das wurde auch einige Jahre böse ausgenutzt.
Bertheau: Es gab eine Zeit, da war das Theater die Bierausgabestelle der Zellerau. Aber letzten Endes haben wir das auf ein normales Maß hingekriegt.
Kam es vor, dass Sie sagten: Stopp! Das geht mir zu weit?
Bertheau: Nie.
Sie haben die Zähne zusammengebissen?
Bertheau: Nein. Ich habe gedacht: Das wird schon.
Büettner: Norberts Sorglosigkeit ist sensationell.
Bertheau: Das kommt von meiner Entwicklung in meinem Job als Konzert- und Tournee-Veranstalter, dass man offen ist für Risiko. Sonst geht gar nichts.
Bertheau: Als ich hier ankam vor 20 Jahren, hat er mir einfach den Schlüssel gegeben und gesagt: Mach mal. So hat er es mit allen gemacht.
Das klingt so harmonisch. Aber in jedem Theater gibt es Konflikte hinter den Kulissen. Die psychische Selbstentkleidung bei den Proben, die Verletzlichkeit, und dann gibt es Schläge mittenrein in die Befindlichkeit.
Bertheau: Das gibt es alles. Es kommt darauf an, wie hoch man es hängt.
Büettner: Keiner ist von seiner Existenz hier abhängig. Alle machen es freiwillig. Und wenn es so ein Ding gibt, sagen sie: Okay, das spiele ich noch, aber dann können sie mich am Arsch lecken.
Hat das Theater Ensemble jemals auf der Kippe gestanden?
Bertheau: Nie. Manchmal muss man schieben und erst nach einer Mahnung bezahlen. Aber das bin ich gewohnt.
Benker: Ich glaube, dass wir drei uns darin ähnlich sind, dass wir das aushalten können. Wir sagen nicht: Schau mal, die Produktion ist gut gelaufen, das müssen wir jetzt immer so machen, damit wir uns einen dicken Anteil auszahlen können. Das Theater ist eigentlich immer gefährdet und steht auf der Kippe, für mein Gefühl, denn es wirft halt nichts ab. Es sei denn, man plant und guckt und stellt Anträge auf Förderung.
Büettner: Ich finde, dass gerade das Prekäre ein Existenzschutz ist. Sobald Erfolg da ist im finanziellen Bereich, gibt es Begehrlichkeiten von woanders. Das Prekäre ist ein Garant dafür, dass wir einfache Produktionen machen und uns um das Wesentliche kümmern.