Vor ein paar Wochen sagte eine Hörerin in einer Radiosendung, sie habe das Vertrauen in Olaf Scholz schon vor dessen Amtsantritt als Bundeskanzler verloren, weil Scholz nicht von einer Spaltung der Gesellschaft sprechen wolle. Auch Kolumnist Nikolaus Blome, bis Oktober 2019 stellvertretender Chefredakteur und Politikchef der "Bild"-Zeitung, wirft dem Kanzler im "Spiegel" vor, die "Spaltung" der Gesellschaft zu leugnen, und hält das für "gönnerhaftes Gerede einer ganz alten Linken": "Was nicht beim Namen genannt wird, gibt es nicht."
Wer heute von Spaltung spricht, meint den Konflikt zwischen Geimpften und Ungeimpften, zwischen Impfwilligen und Impfverweigerern. Tatsächlich sind es meist letztere, die behaupten, schärfere Anti-Corona-Maßnahmen und vor allem eine Impfpflicht würden diese Spaltung vertiefen. So als treibe der Staat einen vermeidbaren Keil vorsätzlich immer tiefer.

Eine ähnliche Argumentation gab es schon mal: Wer ab 2015 gegen die Aufnahme von weiteren Geflüchteten war, sich aber nicht offen ausländerfeindlich äußern wollte, nahm gerne den Umweg einer Warnung: Die stärkere Zuwanderung werde die Bevölkerung überfordern und zwangsläufig zu einer Spaltung derselben führen.
Unterschiedliche Meinungen sollten in einer pluralistischen Gesellschaft kein Problem sein
Vielleicht diagnostizieren wir in Deutschland generell zu leichtfertig gleich eine Spaltung, wenn wir mal nicht alle einer Meinung sind. Unterschiedliche Ansichten zu haben – in einer pluralistischen Demokratie sollte dies ja kein Problem sein. Und eine kleine, wenn auch immer lauter und gewaltbereiter auftretende Minderheit mit konträrer Meinung könnte man allenfalls als "Abspaltung" bezeichnen. Kanzler Olaf Scholz jedenfalls bleibt seiner Linie treu. Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder wählte in seiner Neujahrsansprache auch lieber den Begriff "Gräben".

Allerdings: Kurz vor Ende des zweiten Corona-Jahres meldete das Robert Koch-Institut eine bundesweite Impfquote von lediglich 71 Prozent. Macht im Umkehrschluss 29 Prozent Ungeimpfte – was nicht gerade nach einer zu vernachlässigenden Größe klingt.
Freilich sind das nicht alles militante Schwurbler, die glauben, Bill Gates wolle sie versklaven. Es gibt auch die Impftrödler, die Spritzen-Phobiker und (Schul-)Medizin-Skeptiker ("mein Immunsystem packt das"), die Internet-Recherchierer ("noch nicht genügend Daten vorhanden") und die Verdränger ("mir wird schon nichts passieren"), die nicht auf den Straßen "spazieren gehen" und Polizeibeamte angreifen. Dummerweise richtet ihre Ungeimpftheit den gleichen pandemischen Schaden an wie die der radikalisierten Hardliner.
Mit den meisten Ungeimpften kann man sich ganz normal unterhalten – bis zu einem Punkt
Nicht wenige Menschen haben Ungeimpfte in Familie, Bekanntenkreis, Nachbarschaft oder Kollegenkreis. Und werden festgestellt haben (sofern das Thema nicht schamhaft oder prophylaktisch vermieden wurde), dass man sich mit den meisten ganz normal unterhalten kann. Es kommt halt irgendwann der Punkt, an dem fadenscheinige bis falsche Informationen ("tausende Impftote") und/oder ein mehr oder weniger diffuses Misstrauen gegenüber Wissenschaft, Politik und Behörden vorgebracht werden.
Da enden die Gespräche dann meistens schnell. Aber ist das schon Ausdruck einer gesellschaftlichen Spaltung?
Möglicherweise ist das Impfthema nur Symptom einer ganz anderen Krankheit als Covid-19: nämlich des augenscheinlich wachsenden, ganz grundsätzlichen Misstrauens gegenüber der repräsentativen Demokratie und ihren Entscheidungsfindungsprozessen. Den grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber einem toleranten, diversen und somit irgendwie unübersichtlichen Gemeinwesen.

Möglicherweise wartet ein wachsender Teil der Gesellschaft immer nur auf das passende Ventil, um sein Unbehagen, seine Abneigungen öffentlich abzulassen. Findige Demagogen stellen solche Ventile denn auch gerne bereit: Sie mobilisieren gegen die Rettung Geflüchteter auf See, gegen Klimaschutzpolitik, gegen diskriminierungssensible Sprache, gegen Impfungen. Kurz: Sie nutzen alles, was geeignet ist, gesellschaftlichen Dissens zu fördern.
Somit hätten wir es mit einer Spaltung zu tun, die das Ende der Pandemie überdauern würde. Um deren Ursachen zu erforschen und sie schließlich zu überwinden, sind weitaus größere Anstrengungen nötig, als nur, die letzten Impfzauderer zu überzeugen. Oder eine Debatte darüber zu führen, ob man nun von Spaltung sprechen kann oder nicht.