Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Würzburg
Icon Pfeil nach unten
Stadt Würzburg
Icon Pfeil nach unten

Würzburg: Debatte: Es heißt, die Welt sei so kompliziert geworden – aber stimmt das überhaupt?

Würzburg

Debatte: Es heißt, die Welt sei so kompliziert geworden – aber stimmt das überhaupt?

    • |
    • |
    Wir haben im Leben heute unzählige Entscheidungsmöglichkeiten. Aber war das früher anders?
    Wir haben im Leben heute unzählige Entscheidungsmöglichkeiten. Aber war das früher anders? Foto: Symbolfoto: Getty Images

    Für viele Menschen ist die Welt zu kompliziert geworden. Zu unübersichtlich. Sie fühlen sich zurückgelassen, nicht mehr wahrgenommen, nicht mehr wertgeschätzt. Sie schaffen es nicht mehr, sich als Teil dieses Gemeinwesens zu begreifen und wenden sich ab, kündigen der Gesellschaft und damit der Demokratie die Gefolgschaft.

    So oder ähnlich lauten die Versuche, ein Phänomen zu erklären, für das Google 4,2 Millionen Einträge anbietet: "Zerfall der Gesellschaft".

    Aber stimmt das? Ist unsere Welt so viel komplizierter als noch vor, sagen wir, 30, 40 Jahren? Zugegeben: Die bequeme Einteilung in West und Ost, also "Gut und Böse", ist weggefallen. Im Bundestag sitzen sechs Fraktionen anstatt der praktischen drei, wie sie die Generation der "Boomer" noch aus ihrer Jugend kennen - also die Vertreter der geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1969, die heute in diesem Land das Sagen haben.

    Dass weltweit alles mit allem zusammenhängt, galt auch schon früher

    Die Einteilung in erste, zweite, dritte Welt ist längst überholt, die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit steht hingegen gerade erst am Anfang. Nicht zu reden von Phänomenen wie Identitätspolitik, Political Correctness, Gendern oder Cancel Culture.

    Aber war früher wirklich alles einfacher? Im täglichen Leben bewegt uns doch heute wie damals kaum, was im Jemen, in Mali, in Honkong, im Nahen Osten, in Belarus passiert - das sollten wir ehrlicherweise zugeben. Wir sehen dazu gelegentlich einen Bericht in der "Tagesschau", und wenn nicht gerade "Flüchtlingskrise" oder Pandemie ist, wenden wir uns wieder den wichtigen Dingen zu: Wie geht's der Familie? Kommt "Wetten, dass...?" nochmal zurück? Was kostet der Sprit? Wie sicher ist mein Job?

    Ölkrise 1973, Polizisten kontrollieren die Einhaltung des Fahrverbots. Immerhin: Die Ölscheichs haben uns damals wenigstens auf die Idee gebracht, Energie zu sparen.
    Ölkrise 1973, Polizisten kontrollieren die Einhaltung des Fahrverbots. Immerhin: Die Ölscheichs haben uns damals wenigstens auf die Idee gebracht, Energie zu sparen. Foto: Archivfoto: Roland Scheidemann, dpa

    Dass weltweit alles mit allem zusammenhängt, galt auch schon früher - man denke nur an die Ölkrise. Aber damals schien es eben leichter, Schuldige und Unschuldige auseinanderzuhalten. Immerhin haben uns die "bösen Ölscheichs" darauf gebracht, dass Energiesparen keine so schlechte Idee wäre.

    Wir haben auch begriffen, dass viel Kunststoff keine so gute Idee ist. Dachten wir zumindest. Und doch verwenden wir heute so viel Plastik wie nie zuvor. Tendenz steigend. Haben wir also nichts gelernt? Oder sind da Prozesse in Gang, auf die wir gar keinen Einfluss haben?

    Noch nie war so vielen Menschen so viel Information so leicht zugänglich

    Sitzen wir deshalb in der Kompliziertheitsfalle? Schon sonderbar, wenn man bedenkt, wie viel dank der digitalen Revolution viel, viel einfacher geworden ist. Bankgeschäfte, Behördengänge, Reisen, Musik hören, Filme schauen, auf unterschiedlichsten Kanälen weltweit kommunizieren. Und natürlich: recherchieren. Noch nie war so vielen Menschen so viel Information so leicht zugänglich.

    Theoretisch müssten wir dank all dieser Erleichterungen jede Menge Zeit haben, um endlich das zu tun, was schon Aristoteles vorschlug: Wenn die materiellen Notwendigkeiten geklärt sind, sollten wir unsere Energie darauf verwenden, über das Ziel des Lebens nachzudenken – glücklich sein.

    Warum also sind wir nicht glücklich?

    Zum einen, weil all die Erleichterungen kurioserweise kein Mehr an Zeit gebracht haben. Im Gegenteil. Jeder Freiraum füllt sich - wie ein Vakuum - sofort mit neuer Aktivität, lange bevor wir ihn als solchen wahrnehmen.

    Und zum anderen: Weil wir, so sie tatsächlich mal auftauchen, mit Freiräumen nichts anfangen können. Im Gegenteil. Wir fürchten sie wie kaum etwas anderes. Unsere Daseinsberechtigung besteht nunmal im Beschäftigtsein. Und die neue Technik lässt dafür quasi im Wochentakt neue Mohrrüben vor unserer Nase baumeln.

    Wir haben, ohne es zu merken, die Wahrnehmung dieser Welt aus der Hand gegeben

    Schon paradox: Wir beschäftigen uns mit immer mehr und begreifen immer weniger, was wir da eigentlich tun. Oder warum. Vielleicht resultiert aus diesem diffusen Gefühl der Unzulänglichkeit diese Wut, die sich immer öfter in Kommentaren und auf der Straße Bahn bricht.

    Nicht, weil die Welt als solche zu kompliziert geworden ist. Sondern, weil wir, ohne es zu merken, die Wahrnehmung dieser Welt aus der Hand gegeben haben.

    Was also tun? Vielleicht kann man dem sehr Komplexen nur mit dem sehr Einfachen begegnen. Etwa so: Je unübersichtlicher es da draußen zugeht, desto konsequenter sollten wir uns unserer Werte vergewissern. Anders gesagt: Die meisten von uns brauchen nicht zu wissen, wie ein Quantencomputer funktioniert. Aber wir alle zusammen sollten uns dringend überlegen, wozu wir ihn eigentlich einsetzen wollen.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden