Wir hatten uns so darauf gefreut, auf die gemeinsame Zeit mit Familie während unserer Städtereise nach Hamburg. Längst hatten wir gebucht: Zugfahrt, Hotel, Musical, Hafenrundfahrt. Dann kam Corona und wir saßen zu Hause. Wir verbrachten auch Zeit miteinander, ich hatte ja Urlaub, und begannen nach der ersten Enttäuschung, diese Zeit zu genießen.
Anders, nicht abgelenkt von Hamburger Highlights, mit ausgedehnten Möglichkeiten auch der Selbsterfahrung. Sonst wohnen wir an unterschiedlichen Orten und sind häufig unterwegs. Jetzt fanden wir Zeit, gemeinsam zu diskutieren, zu kochen, zu spielen und im Garten zu sein, denn die Sonne meinte es gut mit uns. Rückblickend war für mich die Zeit meines "Sonderurlaubs" in der Tat eine besondere, für die ich dankbar bin.
Diese Tage sind eine echte Lebenserfahrung
Diese Tage im Corona-Modus sind für mich überhaupt eine echte Lernerfahrung. Inzwischen bin ich wieder am Arbeitsplatz und erlebe wie selten, dass nichts von Dauer ist, nichts auf längere Sicht planbar, wenig mit Sicherheit sagbar, vieles nur ein Versuch ist. Ich bin täglich, mit neuen vielfältigen, teils widerstreitenden Informationen und Bewertungen konfrontiert, auf der Suche nach Antworten, für die es bislang keine fertigen Lösungen gibt. Wir suchen gemeinsam im Team und jeder einzelne nach Indizien, worum es im Moment vor allem und zuerst geht, was jetzt entscheidend ist.
Genau besehen befinde ich mich wohl in einer Lebens- und Arbeitssituation, die mich anderen Menschen und auf eine gewisse Weise auch den Besuchern unserer Bahnhofsmission näherbringt. Ich denke an diejenigen, deren Leben eine unerwartete, plötzliche, möglicherweise schmerzliche Wendung genommen hat; wie ihnen neue Orientierungen abverlangt wurden.
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Manche unserer Besucher haben mir einiges voraus. Denn sie haben Dinge schätzen gelernt, die ich bislang (zu) selten wahrnehme. Sie haben ein Gespür für bedeutende Momente, für die mir oft die Aufmerksamkeit fehlt. Das merke ich, wenn sie Anekdoten erzählen, über einen Vogel im Park sprechen oder eine Be-Achtung im Vorübergehen: "Er hat mich gleich wiedererkannt!".
Von Ihnen kann ich lernen, dass Veränderungen Neues hervorbringen können: neue Sichtweisen und Zugänge, bedeutendes Neues, für das ich dankbar sein darf. Was gibt mir heute Grund, dankbar zu sein?
Michael Lindner-Jung (60) ist Leiter der Würzburger Bahnhofsmission. Für die ökumenische Einrichtung arbeitete der Diplomtheologe und Betriebswirt schon während des Studiums in den 1980er Jahren. Dieser Beitrag gehört zur Main-Post-Serie "Der gute Morgen", in der in Zeiten der Corona-Krise Menschen aus Franken ihre positiven Gedanken aufschreiben und mit unseren Leserinnen und Lesern teilen.