Er könnte sich zufrieden zurücklehnen, die Pension genießen und den Enkel bespaßen. Die Bilanz der Würzburger Mordermittler ist nahezu makellos: Fast alle Tötungsdelikte in Mainfranken in den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden geklärt. An fast allen Ermittlungen hat Karl Erhard, der hagere Mann mit dem markanten Buffalo-Bill-Bart, mitgewirkt.
Brutal erstochen
Doch eine grausame Bluttat lässt den Mordermittler und seine Kollegen seit 27 Jahren nicht ruhen: 1990 wurde in Würzburg die 19-jährige Sharon Harper brutal erstochen – aber ihr Mörder ist bis heute nicht gefasst.
Mehr als zweieinhalb Jahrzehnte später haben ihre Eltern jetzt wieder in einem Brief an die Staatsanwaltschaft gefragt, ob der Mörder ihrer Tochter ermittelt sei. Was sollen Oberstaatsanwalt Boris Raufeisen und Mordermittler Erhard nach Irland antworten? Dass sie allen Spuren nachgingen, der Fall aber auf der Stelle tritt, weil sie selbst auf Antworten warten? Antworten auf Fragen, die sie schon 2009 gestellt hatten?
"Da könnte etwas vorangehen“
Mordermittler Karl Erhard hatte gehofft, das Verbrechen vielleicht doch aufklären zu können. Als er den Fall Sharon Harper vor Jahren von seinem damals in Pension gehenden Kollegen Heinz Ross übernahm und die Akten sorgfältig las, gewann er den Eindruck: „Da könnte etwas vorangehen.“
Die 19-jährige Irin hatte seit 1989 in Würzburg gelebt. Sie arbeitete bei einer US-amerikanischen Offiziersfamilie, verbrachte ihre Freizeit gerne mit den hier stationierten US-Soldaten, die ihre Sprache sprachen.
Verabredet, aber nicht gekommen
Nahe der US-Kaserne Leighton Barracks im Würzburger Stadtteil Frauenland hatte Sharon Harper an einem Juliabend 1990 gegen 21 Uhr mit einer Freundin telefoniert. Sie verabredeten sich in einem Lokal in der Innenstadt. Doch dort kam Sharon nie an.
Die Polizei geht davon aus, dass sie im Bereich des „Letzten Hiebs“ ins Auto ihres Mörders stieg. Sie kannte ihn wohl, zu einem Fremden wäre sie nie ins Auto gestiegen, sagten ihre Bekannten. Der Wagen fuhr in Richtung Nürnberger Straße, wo etwas abseits das Tierheim liegt. Dort muss ihr Mörder zum Messer gegriffen haben. „Meine Kollegen sind aufgrund der Spuren davon ausgegangen, dass es Sharon gelang, aus dem Auto zu fliehen“, sagt Erhard. „Den Verletzungen nach versuchte das Mädchen verzweifelt, die Angriffe abzuwehren.“ Mit fünf Stichen wurde die 19-Jährige getötet.
Keiner sah den Mörder
Niemand scheint in der Mordnacht Sharons Schreie gehört zu haben. Keiner sah den (oder die) Mörder mit blutigen Frauenkleidern in der Hand aus den Büschen kommen. Kein Zeuge meldete sich in den folgenden Tagen bei der Polizei, obwohl der Mordfall hohe Wellen schlug, als am nächsten Mittag Spaziergänger zufällig die Leiche hinter den Büschen entdeckten. Bluse und Schuhe fehlten.
Ein Raubmord aber war es offenbar nicht: Die 1,60 Meter große junge Frau hatte ihre goldene Armbanduhr, einen schmalen goldenen Armreif, ein silberfarbenes Armkettchen mit vier Herzen sowie Ohrringe getragen. Einer mit türkisfarbenen Steinchen und einen orientalischen Anhänger.
Auch für die Ermittler belastend
Mühsam versuchten die Ermittler schon damals, in dem Fall voran zu kommen. Karl Erhard erzählt nur zögerlich, wie belastend die Suche in so einer Phase selbst für erfahrene Ermittler und ihre Familien sein kann. „Man beginnt, sich voll auf die Ermittlung zu konzentrieren, denkt Tag und Nacht daran.“ Alles andere werde zeitweise unwichtig. „Man entwickelt regelrecht eine Art Tunnelblick, ist nur noch auf das Ziel fixiert: den Fall lösen zu wollen. Da müssen Frau und Familie viel Verständnis aufbringen.“
Winzige Hinweise
Ungelöste Altfälle müssen bei den Mordermittlern neben der aktuellen Arbeit her laufen. Das bedeutet, in staubigen Akten zu wühlen, zum fünften Mal den gleichen Stein umzudrehen. Man spricht mit Experten, hofft auf Fortschritte der Wissenschaft, sucht nach winzigen Hinweisen, die bisher vielleicht übersehen wurden. Es heißt auch, in schlaflosen Nächten darüber zu grübeln, wo man noch ansetzen könnte oder wie eine Vernehmung am nächsten Tag laufen könnte. „Das greift einem manchmal schon ans Gemüt“, berichtet der Kripo-Mann mit über 40 Jahren Erfahrung zögernd.
Zur Entspannung ging Erhard früher gerne joggen, jetzt machen die Knochen das nicht mehr mit. Aber er setzt sich – wenn ihm die Zeit bleibt – manchmal für eine kleine Runde aufs Motorrad, um den Kopf frei zu kriegen. Vor allem aber „braucht man eine Frau, mit der man vertraulich reden kann und verlässliche Freunde, die einen auffangen und auf andere Gedanken bringen“.
Lange Liste aufgeklärter Fälle
Ungelöste Morde wie der von Sharon Harper gehen Ermittlern vom Mordkommissariat K 1 an die Berufsehre. Mit seinen Kollegen hat Erhard auch schwierige Fälle in Mainfranken gelöst: 2006 den Foltermord in Volkach, 2011 den Brudermord an dem Mann im Weinfass. Erhard war bei denen, die 2012 in Heidingsfeld den Schubkarrenmörder schnappten, 2013 in Würzburg beim Mord an der jungen Mutter Nadine die Lügen ihres Freundes entlarvten und 2016 die Messerattacke im Schlosspark in Wiesentheid aufklärten.
Mörder beim Spaziergang gefasst
Seine Kollegen erzählen noch immer die Geschichte von 2013: Nach dem Fund eines ermordeten Rentners in Randersacker fuhr der Erste Kriminalhauptkommissar mit einem Kollegen die Flurwege nahe des Tatorts ab. Er wollte eine Spaziergängerin vor dem Mörder in Sicherheit bringen – und traf unverhofft den Mörder: Der Mann, nach dem rundherum mit Hochdruck gefahndet wurde, hatte nach der Bluttat seelenruhig seinen Hund auf den Feldern ausgeführt. Erhard und sein Kollege mussten ihn nur noch festnehmen.
War ein zweiter Mörder dabei?
Als Ermittler mit jahrzehntelanger Erfahrung kennt er die kleinen Puzzleteile, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden können: Er suchte also in Sharons Bekanntenkreis. Denn die 19-Jährige, davon ging die Polizei aus, wäre nur zu einer ihr bekannten Person ins Auto gestiegen. Erhard prüfte auch eine These der ersten Ermittler: Sie wollen nicht ausschließen, dass ein zweiter Mann an der Sexattacke und dem Mord beteiligt war. „Bei der Tat hat sich Sharon heftig zur Wehr gesetzt“, sagt Erhard. „Nach meiner Einschätzung müssten am Körper des Mörders Kratzspuren gewesen sein.“ Er dachte: Möglicherweise erinnert sich daran jemand, der zu jener Zeit auch in der Diskothek „Green Goose“ in Würzburg verkehrte. Keine schlechte Idee, wie sich herausstellte: Zeugen gaben ihm bei Vernehmungen dazu brauchbare Hinweise.

Nachträglich DNA-Spur entdeckt
Ein zwölf Millimeter langes Haar mit Wurzel wurde auf Harpers entblößtem Oberkörper gefunden. Möglicherweise gehört es zum Mörder, der mit dem genetischen Fingerabdruck identifiziert werden könnte. Als Erhard Jahre später Harpers sichergestellte Kleidung noch einmal überprüfen ließ, fand man dank verbesserter Methoden an der Jeans DNA-Spuren – wohl vom Täter. Man könnte also einen Verdächtigen mit dem DNA-Vergleich überführen oder entlasten.
Zwei Verdächtige ragen heraus
Erhard filterte aus dem Kreis der Bekannten 23 Personen heraus, die als Tatverdächtige infrage kamen. Das waren vor allem Angehörige der US-Streitkräfte, in deren Umfeld Sharon Harper lebte. Darunter sind zwei US-Soldaten, die ähnlicher Morde überführt wurden und auf die eine Reihe von Indizien hindeutet. „Wir haben keinen Sachbeweis, der konkret mehr auf sie als auf andere hindeutet“, dämpft Staatsanwalt Boris Raufeisen voreilige Erwartungen. Doch der Verdacht ist so konkret, dass Erhard die Soldaten genauer unter die Lupe nahm.
Noch ein Mord?
Denn kurz vor dem Mord an Sharon hatte 1990 eine andere Bluttat für Aufsehen gesorgt: In der benachbarten US-Garnison Giebelstadt war die junge US-Sanitäterin Tammy Ivon nach einem Besuch in der Würzburger Disco „Green Goose“ getötet worden. Des Mordes wurde ein US-Gefreiter namens Michael Brosius verdächtigt und schließlich überführt.
Er hatte die Möglichkeit zum Mord
Den Soldaten aus Giebelstadt hatten die Ermittler auch im Fall Harper schnell auf der Liste: Die Morde an den jungen Frauen ähnelten sich von der Vorgehensweise, es ging um erzwungenen Sex und ein Messer als Mordwaffe. Und beide Opfer verkehrten im „Green Goose“, in dem Brosius mehrfach Gast war. Von dort war er mit Tammy nachts zurück in die Kaserne gefahren – mit einem zweiten Mann im Auto. Aber selbst vor Gericht weigerte er sich, dessen Namen zu nennen.
Brosius gestand den Mord an Ivon und wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Für den Mord an der schönen Irin drei Wochen später schien er ein felsenfestes Alibi zu haben: Die Ermittler schlossen Brosius als Verdächtigen aus, weil sie glaubten, er habe da schon als Verdächtiger wegen des Mordes an Tammy Ivon in US-amerikanischer U-Haft gesessen. Doch diese Annahme war wohl falsch, wie erst 2015 durch die Serie „Ungeklärte Kriminalfälle“ unserer Redaktion ans Licht kam.
Erst vier Tage später verhaftet
Wenn Aussagen von 1990 von der damaligen US-Pressesprecherin Babs Angel gegenüber dem Reporter stimmen, wurde Brosius am 21. Juli festgenommen – erst vier Tage nach dem Mord an Sharon Harper. Das aber erfuhren die Würzburger Mordermittler von ihren US-Militärkollegen nicht.
Vor Gericht sagten Zeugen, Brosius sei ein Anhänger okkulter Rituale, einer Abart des Satanismus. Dies brachte die Ermittler auf eine Idee: Hatten Brosius und der unbekannte zweite Mann Tammy Ivon gemeinsam getötet – und dann auch Sharon Harper? Die These klang abenteuerlich, aber Erhard ging ihr nach. Auch bei Harper gab es Hinweise auf zwei Täter. Der Verdacht keimte gegen einen US-Soldaten namens Bryan Tilford, einen Kameraden von Brosius. Auch der war fasziniert von okkulten Ritualen, fantasierte von einer Persönlichkeitsverwandlung in einen „Phoenix“, wie beschlagnahmte Briefe später belegten. Und in den USA hatte Tilford vor den Fällen in Unterfranken eine Frau erstochen – was aber erst Jahre später herauskam.
Mindestens zweimal zum Messer gegriffen
Erzwungener Sex mit gezücktem Messer war ihm nicht fremd: In Ansbach attackierte Tilford 1992 nachts eine Deutsche und hätte sie fast getötet. Wegen versuchten Mordes und Vergewaltigung kam er ins Gefängnis nach Fort Leavenworth. Er galt als hoch kriminell und geriet in Verdacht, mit weiteren Morden in Deutschland zu tun zu haben.
Nachweisen konnte man ihm das nicht – wohl aber 1994 den bereits 1989, vor der Stationierung in Deutschland, verübten Mord an einer Frau in El Paso. Auch sie war vergewaltigt und erstochen worden. Für den Mord von 1989 entging er knapp der Todesstrafe, er sitzt jetzt lebenslänglich inhaftiert in El Paso.
Bitte um Amtshilfe seit 2009 nicht beantwortet
Karl Erhard und Oberstaatsanwalt Boris Raufeisen könnten einen der verdächtigen befragen und vielleicht sogar dank der inzwischen gewonnenen DNA-Spuren an der Teilnahme am Mord an Sharon Harper überführen. Einige Teile des Puzzles haben sie zusammen. Eine Zeugin aus dem „Green Goose“ erinnerte sich: Brosius habe gerne in jenem Biergarten am „Letzten Hieb“ gesessen, an dem Harper zu ihrem Mörder ins Auto stieg.
Die Würzburger Mordermittler wären in dem Fall längst viel weiter. Vielleicht steckt dahinter gar ein Serienmord? 2009 baten sie die US-Behörden um Amtshilfe, beim Abgleich der DNA-Spuren mit Tilford und Brosius. Aber bis heute haben sie keine Antwort. Der Fall tritt auf der Stelle.
Erneuter Anlauf
„Wir haben nichts, was konkret auf diese beiden hindeutet“, sagt Raufeisen. Erhard wäre gerne in die USA geflogen – um beide mit dem Verdacht zu konfrontieren. Und zu fragen, ob sie zu einem DNA-Test bereit wären. Doch er hat nur noch wenige Tage bis zur Pensionierung, die Zeit läuft ihm davon. Wandert dann der Fall endgültig zu den Akten der ungelösten Fälle? Raufeisen und Erhard haben noch einmal eine aktualisierte Bitte um Amtshilfe nach Washington geschickt – in der Hoffnung, jetzt eine Antwort zu bekommen.
Hinweis in Leserbrief
Denn beide wissen inzwischen auch, dass Tilfords Frau beim Mordprozess in El Paso der dortigen Zeitung einen Leserbrief geschrieben hatte. Darin steht: Tilfords Mordversuch samt Vergewaltigung an der jungen Deutschen in Ansbach 1992 sei nicht sein erstes derartiges Verbrechen gewesen. Das habe er ihr selbst gestanden. Und dieser Satz aus El Paso lässt dem Mordermittler in Würzburg keine Ruhe.