Wahlkampf gibt es in der Gemeinde Schönstheim nicht. Wahlplakate sind überflüssig. Wahlkundgebungen der Kandidaten sowieso. Und zur Urne müssen die Schönstheimer auch nicht. Es gibt sie nämlich gar nicht, die Schönstheimer. Dennoch wird in der Gemeinde Schönstheim jährlich ein Bürgermeister gewählt. Und zwar immer am 2. Mai. Ein Bürgermeister ohne Volk und Gemeindegebiet: Wie geht das? Die Antwort liegt in der Vergangenheit, wahrscheinlich am Beginn des 16. Jahrhunderts.
Nach Schönstheim führen keine Wegweiser. Es ist auch nicht auf Karten verzeichnet. Schönstheim liegt nordwestlich der Straße von Röttingen nach Riedenheim. Und Schönstheim besteht hauptsächlich aus Wald. Hier wohnt kein Mensch, und doch gibt es so etwas wie Adressen. Die Bachmannshub, beispielsweise. Oder die Zobelshub. Im Mittelalter bekamen die abhängigen Bauern Haus, Hof, Acker- und Wiesenland zugewiesen, so genannte Hube.
16 davon gibt es in Schönstheim. Sie liegen am Fuß der Burg Schönstein, von der heute nur noch Wall und Graben zu sehen sind. Der Name Schönstein hat sich wohl im Laufe der Geschichte auf das aufgelassene ehemalige Dorf Dippach übertragen. Überliefert ist, dass die Wüstung Dippach mit zu jenen Weilern gehörte, die Kraft III. von Hohenlohe 1345 dem Hochstift Würzburg verkaufte. „Das Dorf muss Mitte des 15. Jahrhunderts oder spätestens 1513 untergegangen sein“, weiß Anton Engelhardt. Denn aus der Riedenheimer Dorfgerichtsordnung geht hervor, dass die Schönstheimer 1513 zwei Schöffen nach Riedenheim ans Dorfgericht schicken sollten. Doch Schönstheim ist jetzt eine Wüstung, heißt es in den Archivalien des Gerichts. Auch die Burg Schönstein wurde etwa um diese Zeit verlassen. 1467 wird in einem Salbuch, also in den Aufzeichnungen des Bistums, „die Gült von der Ziegelhütte zu Schönstein, genannt Burgstall“ erwähnt. Als Burgstall werden verlassene Burgen bezeichnet. Aber die Grundstücke der Burg Schönstheim und der 16 Bauernhöfe bleiben erhalten. Sie bilden selbstständig wirtschaftliche Einheiten. Und die Besitzer der Grundstücke eine Realgemeinde – ein Überbleibsel der mittelalterlichen Flurverfassung also. Das Dorf lebt bis heute auf dieser Idee beruhend in der Schönstheimer Gemeinde fort. Einmal im Jahr kommen die Anteilseigner zusammen und wählen ihren Bürgermeister.
Wie auch an diesem Freitag. Immer am 2. Mai tagen die Schönstheimer im Röttinger Rathaus. „Wir haben das Recht uns hier zu treffen“, sagt Anton Engelhardt. Im ehrwürdigen Gebäude ist auch die Registratur der Schönstheimer untergebracht. Der Rolladenschrank, umgangssprachlich Schönstheimer Schrank genannt, steht in einer kleinen Kammer im Rathaus. Wenn die 16 Hubvorstände sich im Rathaus zur Bürgermeisterwahl treffen, dann ist es Brauch, dass die alten und neuen Bürgermeister ein paar Flaschen Wein ausgeben, die früh getrunken werden, erzählt Anton Engelhardt. Dabei werden verschiedene Themen besprochen. Denn die Hubvorstände und das Bürgermeisteramt verwalten den Besitz an Wald- und Wiesenflächen, die der Gemeinde Schönstheim gehört. Etwa 20 von 300. Der Erlös daraus gehört der Gemeinde, die damit auch den Bau von Wegen finanziert. Einst gehörten diese Grundstücke dem Schlossherrn von Schönstheim und waren an keine Hube verpachtet. Anton Engelhardt ist Vorstand der Bachmannshub. Bis vor zwei Jahren gehörten dazu noch 20 Grundstücke. Nach einem Tausch sind es jetzt 16. Ihm gehören diese Grundstücke aber nicht allein. Engelhardt wurde von den Teilhabern, also den Eigentümern der Hube, zum Vorstand gewählt. Das Besondere dabei ist: niemand kann bestimmt sagen, dieses oder jenes Waldgrundstück ist mein Besitz. Die Teilhaber der Bachmannshub, das gilt auch für die 15 anderen Huben, sind nach der Höhe ihres Anteils gemeinschaftlich an der Hube beteiligt. „Den etwa 300 Hektar großen Wald teilen sich 180 Personen“, weiß Anton Engelhardt. Der alteingesessene Röttinger Winzer wird, wenn sich alle an die Vereinbarung halten – wohl am Freitag turnusmäßig für ein Jahr zum Bürgermeister der Schönstheimer Gemeinde gewählt. Alle acht Jahre kommt er dran. Weil Anton Engelhardt als Hubvorstand dienstälter ist als Burkhard Wunderlich, der auch zur Wahl steht, wird Engelhardt erster und Wunderlich zweiter Bürgermeister. „Der zweite hat die wesentliche Arbeit zu machen“, weiß Anton Engelhardt. Beispielsweise muss er zu Versammlungen einladen und den Schriftverkehr führen.
Engelhardt hat noch Aufzeichnungen von früher. Aus einer Schatulle zieht er handschriftliche Notizen hervor. Ein Dokument ist die Abschrift einer Besitzurkunde von 1687. Damals wurde jedes Grundstück genau beschrieben. Beispielsweise heißt es hier: „Ein Stück unter den grauen Wiesen, eingeteilt in drei Morgen.“ Engelhardt hat auch ein Originaldokument von 1743 gefunden. Darin sind alle Grundstücke aufgeführt, die gemeinschaftlich bewirtschaftet werden müssen.
Seit mehr als 500 Jahren gibt es die eigenständige Gemeinde Schönstheim nun. Versuche, sie Anfang des 20. Jahrhunderts, einzugemeinden, misslangen. „Die Gemeinde Schönstheim wollte zu keiner Gemeinde gehören“, weiß Anton Engelhardt. „Vor allem keine Grundsteuer an Röttingen bezahlen.“ Bis 1933 konnten die Hubvorstände das auch durchhalten. Dann hätten sich die Schönstheimer – wohl auch nach einem gerichtlichen Hinweis – mit den Röttingern geeinigt. „Die Gemeinde Schönstheim muss Grundsteuern zahlen, bleibt aber eigenständig und darf auch ihre Jagd selbst verpachten“, sagt Anton Engelhardt. Und weil sich die Gemeinde selbst verwaltet, gibt es auch einen Verwaltungszuschuss aus der Röttinger Stadtkasse. „Auch heute noch“, sagt der frisch bestimmte Bürgermeister.