Freunde treffen sich gewöhnlich im Café, gehen zusammen ins Kino oder in die Disco. Bei Dieter Wenderlein und seinem Freund Charles Hood gestalten sich Treffen nicht so einfach. Wenn sie sich sehen wollen, muss Dieter in die USA reisen. Der Würzburger muss um Einlass in einem Gebäude mit vielen verschlossenen Türen und Gittern bitten, muss sich durchsuchen lassen. Und wenn er aufgerufen wird, muss er vor eine Scheibe setzen und einen Telefonhörer in die Hand nehmen. Auf der anderen Seite der Scheibe wird Charles dann in Handschellen in einen Käfig geführt. Der US-Amerikaner wartet im Gefängnis seit 1990 auf die Vollstreckung seines Todesurteils.
Dieter Wenderlein ist bei der katholischen Gemeinschaft Sant' Egidio aktiv, die sich schon lange gegen die Todesstrafe einsetzt. In den 90er Jahren hatten zwei Mitglieder aus Rom Briefkontakt zu einem Todeskandidaten gesucht. „Plötzlich hat die Thematik ein Gesicht bekommen, es war sehr bewegend“, erzählt Wenderlein. Der Kontakt zu Todeskandidaten ist allerdings nur in den USA und manchmal in Sambia möglich, Länder wie China oder Iran erlauben ihn nicht. Wenderlein entschied sich 1998, eine solche Brieffreundschaft zu beginnen. Mit dem vollen Bewusstsein, dass er im Alltag keine sonderlichen Sympathien für einen verurteilten Doppelmörder empfinden würde. Doch der christliche Gedanke von Versöhnung, die Möglichkeit Fehler einzusehen und eine zweite Chance zu bekommen, erschien ihm richtig. Richtiger jedenfalls als die in die in der USA verbreitete Meinung, es gebe nur „gut“ oder „böse“.
Sein Brieffreund Charles Hood arbeitete in Bars in Dallas als Türsteher. Als sein Chef und dessen Frau, bei denen er wohnte, umgebracht wurden, beschuldigte man Charles. Der Pflichtverteidiger hatte das Gericht nicht vom Gegenteil überzeugen können. Die zuständige Richterin und der Staatsanwalt hatten eine geheime Affaire, die später zwar herauskam und immense Zweifel am Urteil schürte. Doch nutzte das Charles, der bis heute seine Unschuld beteuert, wenig. Mittlerweile hat der 42-Jährige einige Hinrichtungstermine überstanden.
Am besten erinnert sich Apotheker Dieter Wenderlein an einen Termin 2008: „Seine Anwälte haben gekämpft. Aber bis 18 Uhr, als die Hinrichtung angesetzt war, gab es keinen Aufschiebung“, sagt der Würzburger, der das Geschehen im Internet verfolgte. Dort sind Hinrichtungen und Aufschiebungen aktuell einsehbar. Gegen 20 Uhr Ortszeit gab es zwar einen Aufschub, doch ein höherrangiger Richter erhob Einspruch. Charles hatte seine Henkersmahlzeit – Hähnchenflügel – bereits gegessen und wartete auf seinen Tod neben dem Raum mit der Pritsche, an der er angeschnallt werden sollte um die Giftspritze zu bekommen. Der Einspruch wurde erst um 23 Uhr gültig, und die Gefängnisleitung hatte die Erlaubnis für die Hinrichtung nur bis 24 Uhr. Allein dem Umstand, dass sie in einer Stunde nicht mehr zu schaffen war, ist Charles noch am Leben.
Dieses Leben fristet er in einer Einzelzelle. Statt eines Fensters gibt es eine Öffnung in der Wand über Kopfhöhe. Wenn ihm die Wärter kooperatives Verhalten bescheinigen, darf er in einer Art Käfig an die frische Luft. Frühstück gibt es um 4 Uhr morgens, Mittagessen um 10 Uhr, Abendessen am Nachmittag. Charles darf Briefe schreiben, was er begeistert mit Dieter und anderen tut. Auch Willi, ein Obdachloser aus Würzburg, war eine zeitlang Brieffreund des Todeskandidaten. „Wir hatten Geld gesammelt, um einen DNA-Test, der in Charles' Fall nie erfolgte, möglich zu machen, falls das Gericht es erlauben würde“, erzählt Wenderlein. „In einem Brief habe ich ihm von meinem obdachlosen Bekannten berichtet, für den es im Winter ziemlich hart ist. Er schrieb zurück, dass ich Willi von dem gesammelten Geld Winterschuhe und einen Mantel kaufen sollte. Wenn etwas übrig sei, könne man ja das für den DNA-Test nehmen.“ Willi war dafür sehr dankbar, Dieter übersetzte Briefe von ihm an Charles und auch die Briefe, die der Häftling sofort zurückschrieb.
Im Juli 2009 besuchte der Würzburger seinen Freund dann in der Polunsky Unit in Livingston, einem Gefängnis für Todeskandidaten. Er passierte nach strenger Durchsuchung die Schleuse, auf die man den warnenden Spruch „Do the right thing“ – „Tu das Richtige“ – gesprüht hatte. Immerhin ist es Besuchern erlaubt, aus einem Automaten für 20 Dollar Süßigkeiten und Getränke für den Häftling zu kaufen, erzählt Wenderlein. Bei dem sonst eher ekligen Essen ein unglaublicher Luxus. „Ich habe mir Themen zurechtgelegt, vier Stunden zu reden ist nicht so einfach“, gibt Dieter Wenderlein zu. Doch Charles habe ihn viel über sein Leben gefragt, sei sehr interessiert gewesen. Er habe gemerkt, dass er in dem Brieffreund aus Deutschland wirklich einen persönlichen Freund sah, nicht nur irgendeinen Fremden, der ihm gelegentlich etwas schickt.
Die Situation des Todeskandidaten hat sich mittlerweile etwas verbessert: Anwälte, die sich gegen die Todesstrafe engagieren, haben es geschafft, dass über die Strafe von Charles neu verhandelt wird. Und er ist in ein normales Gefängnis in McKinney verlegt worden. Hier darf er sogar mit Dieter telefonieren, es gibt eine Gefängnisbücherei und anderes, war in den vergangenen 20 Jahren für ihn unvorstellbar war. Das Wichtigste: Er muss nicht mehr täglich mit seiner Hinrichtung rechnen.
Keith Gore und Bill Pedersen, die neuen Anwälte, die Charles seit seiner Verlegung vertreten, reisen derzeit durch Europa. In der vergangenen Wochen waren die beiden bei Dieter Wenderlein in Würzburg zu Besuch. Sie befragten Charles' Brieffreund, um weitere Belege zu finden, dass der Todeskandidat kein schlechter Mensch ist. „In Texas gibt es diese Cowboy-Mentalität. Der Staatsanwalt wird beweisen wollen, dass Charles ein Monster ist, der noch nicht mal mehr im Gefängnis gehalten werden kann“, sagt Keith Gore. Staatsanwälte werden in den USA von der Bevölkerung gewählt, die Region von McKinney sei zu hundert Prozent republikanisch. Ein Staatsanwalt, der sich gegen die Todesstrafe ausspricht, habe keine Chance auf Wiederwahl, sagt Gore. Wobei Fälle, bei denen DNA-Tests nach Jahren die Unschuld von Verurteilten beweisen, manche Leute zum Umdenken bewegten.
Die Mehrzahl der Texaner halte allerdings am „Auge um Auge“-Prinzip fest. Die beiden Anwälte hoffen, dass es innerhalb eines Jahres zu einer neuen Anhörung kommt. Doch selbst wenn der Staat ihn von der Liste der Todeskandidaten streicht, werde Charles wohl im Gefängnis bleiben. Einen neuen Prozess zu bekommen, in dem es um Schuld oder Unschuld geht, sei nicht einfach. „Charles hat eine unglaubliche Selbstdisziplin, er macht sich selbst einen geregelten Tagesablauf und hat seinen Glauben nicht verloren“, beschreibt Keith Gore, wie es Charles Hood schafft, Jahrzehnte in dieser kaum vorstellbaren Lebenssituation zu überstehen. Außerdem machen ihm seine schreibenden Freunde Mut.