Weniger Zirpen, weniger Summen, weniger Brummen, weniger Kreuchen und Krabbeln: Auf Wiesen und in Wäldern leben deutlich weniger Insekten und andere Gliederfüßer als noch vor zehn Jahren. Das belegen die neuen Daten, die ein großes Forscherteam in drei Regionen Deutschlands erhoben und ausgewertet hat. "Dass tatsächlich ein Großteil aller Insektengruppen betroffen ist, war bislang nicht klar", sagt Hauptautor Dr. Sebastian Seibold.
Der 33-Jährige, der am Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie der Technischen Universität München (TUM) angestellt ist, habilitiert derzeit an der Universität Würzburg und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ökologischen Station Fabrikschleichach. Das Team um Sebastian Seibold hatte zwischen 2008 und 2017 regelmäßig Insekten und andere Gliederfüßer wie Spinnentiere und Tausendfüßer an rund 300 Standorten in drei Regionen Deutschlands gesammelt - auf der Schwäbischen Alb, im Hainich in Thüringen und in der brandenburgischen Schorfheide.
Die Wissenschaftler analysierten Daten von mehr als einer Million Gliederfüßer von mehr als 2700 Arten. Erschreckendes Ergebnis: Sowohl auf Wiesen als auch in Wäldern ging die Zahl der Arten, also die Vielfalt, in den zehn Jahren um etwa ein Drittel zurück. Auch die Gesamtmasse an Gliederfüßern nahm ab, vor allem in den Graslandschaften: um 67 Prozent. In den Wäldern schrumpfte sie um etwa 40 Prozent. Was sind die Ursachen? Und was kann man tun?
Als diese große Erhebung 2008 begonnen wurde – was war der Ansatz, was war das Ziel? Wollten Sie das Artensterben messen?
Sebastian Seibold: Es ging ganz grundsätzlich um die Effekte von Landnutzung auf Biodiversität - im Allgemeinen, aber auch mit Blick auf Ökosystem-Dienstleistungen. Damals war das Insektensterben noch kein großes Thema und der Begriff so noch gar nicht geformt. Obwohl es schon Studien gab, zum Beispiel aus England, die gezeigt haben, dass es gewissen Insektengruppen schlecht geht. Anlass war wirklich die Beobachtung von Landnutzungseffekten. Deshalb wurden in einem relativ aufwändigen Verfahren möglichst gute Flächen in drei Regionen ausgewählt.
Was heißt das, gute Flächen?
Seibold: Sie mussten möglichst repräsentativ für weite Teile Deutschlands sein. Und innerhalb der ausgewählten Regionen wurden auf mehreren tausend möglicher Flächen Bodenerhebungen gemacht und die Landnutzung und die Vegetation kartiert. Die Flächen für die Studie sollten sowohl im Grünland wie im Wald Nutzungsgradienten abbilden: Das musste überall von ganz intensiv bewirtschaftet bis hin zu relativ unbewirtschaftet gehen. Also von der Wiese, die vier Mal im Jahr gemäht und regelmäßig mit Gülle gedüngt wird, bis zur Wacholderheide auf Kalkmagerrasen in der Schwäbischen Alb, die nur einmal im Jahr kurz beweidet ist. Oder im Wald vom klassischen Kiefern- und Fichten-Forst bis zum unbewirtschafteten Schutzgebiet.
Klingt nach viel Fleißarbeit.
Seibold: Genau. Ganz grundsätzlich gehören zum Forschungsprojekt, den Biodiversitäts-Exploratorien, fast 300 Teilprojekte mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen, die jeweils drei Jahre laufen. Es geht ja nicht nur um Insekten. Es gibt Arbeitsgruppen, die schauen sich andere Tiergruppen an, die Botanik, die Waldstruktur oder auch inwieweit die Genetik von einzelnen Arten beeinflusst wird.
Und die Frage der Insekten-Gruppen war: Wie viele Arten und wie viel Biomasse gibt es bei welcher Nutzung?
Seibold: Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die ergeben haben: Die extensiv bewirtschafteten Wiesen haben mehr Insektenarten als die intensiv bewirtschafteten – und die Arten unterscheiden sich. Auf den stark bewirtschafteten Wiesen findet man nur noch Insekten, die eher gute Flieger sind, die sehr klein sind. Während man auf extensiven Flächen auch Insekten findet, die eher „fußlahm“ sind und nicht so leicht ausweichen können.

Was ist gravierender: Der Rückgang der Artenvielfalt oder der Rückgang der Biomasse, also der Gesamtzahl der Individuen?
Seibold: Das ist kaum pauschal zu beantworten. Es kommt immer darauf an, um welche Funktion es gerade geht. Wenn man daran denkt, dass Insekten die Nahrungsgrundlage von Vögeln sind ist wahrscheinlich die Biomasse ausschlaggebender. Auch wenn es spezialisierte Vogelarten gibt, die nur bestimmte Insekten fressen. Wenn man sich aber die Bestäubung anschaut, gibt es oft ganz konkrete Beziehungen, Interaktionen zwischen einer Pflanzenart und einem Insekt. Wenn das Insekt fehlt, fehlt der Bestäuber. Da ist also die Artenzahl ausschlaggebend. Was für uns spannend war, im Vergleich zu der Krefelder Studie, die „nur“ die Biomasse erhoben hat, konnten wir einen Schritt weiter gehen.
Und das heißt?
Seibold: Wir konnten zeigen, dass eben nicht nur die Biomasse betroffen ist, sondern dass es wirklich Rückgänge in der Gesamtindividuenzahl und in der Artenzahl gibt.
Hat Sie das überrascht?
Seibold: Überrascht hat uns, in welchem Zeitraum dieser Rückgang festzustellen ist. Zehn Jahre, das ist sehr kurz. Wir haben nicht erwartet, dass wir da so starke Effekte finden. Und überraschend war, wie einheitlich die Rückgänge über die verschiedenen Flächen hinweg feststellbar sind: sowohl, dass alle drei Regionen, als auch, dass im Grunde alle Flächen betroffen waren – von den Schutzgebieten bis zu den Intensivflächen.
Wieso die Schutzgebiete? Hilft das Schützen nicht?
Seibold: Eine gute Frage. Wir können sie leider noch nicht genau beantworten. Für das Grünland können wir statistisch einen Zusammenhang nachweisen, dass die Flächen, die von viel Acker umgeben sind, stärkere Rückgänge gezeigt haben als Flächen mit weniger Acker im Umfeld. Das heißt, der Rückgang läuft auf einer größeren räumlichen Skala ab. Man kann nicht nur die Insektenpopulation in der einzelnen kleinen Wiese betrachten. Die Populationen der verschiedenen Arten sind räumlich miteinander vernetzt. Wenn die Populationen außerhalb zurückgehen, können auch die Populationen im Schutzgebiet zurückgehen, weil der Austausch fehlt. Oder es schwappt was von außen hinein – Stichwort Pestizide oder Stickstoffeinträge. Das beeinflusst auch Schutzgebiete.
Das heißt: Grünland, schön und gut. Aber wenn Acker drumrum ist . . .
Seibold: Was ein spannendes Ergebnis in den Wiesen war: Dass Arten die keine guten Flieger sind und nicht so einfach ausweichen können, wenn die Wiese gerade gemäht wurde, anfälliger sind, wenn außerherum viel Acker ist. Gute Flieger können offenbar mal über den Acker hinweg. Die „fußlahmen“ Arten, die sich nicht so leicht ausbreiten können, schaffen es nicht.
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Welche Arten sind denn generell besonders betroffen?
Seibold: Wir haben noch keine Auswertung auf der Ebene der Einzelarten gemacht. Aber wir haben uns verschiedene Gruppen angeschaut: Pflanzenfresser, Räuber, Substanz-Zersetzer. Und alle Gruppen waren betroffen, vor allem im Grünland. Im Wald gibt es unter den Blattfressern einige Arten, die sogar zugenommen haben.
Ganz platt gefragt: Was ist das Schlimme am Rückgang?
Seibold: Da sind wir in der ganz grundlegenden Diskussion von Naturschutz. Da gibt es die Argumentationslinie: Jedes Lebewesen hat seine Lebensberechtigung. Was sind wir Menschen, dass wir manche Tiere zum Aussterben bringen? Die andere Argumentationslinie ist: Arten haben wichtige Funktionen. Wenn wir Insektenvielfalt verlieren, wirkt sich das auf die Funktionen und auf die Nahrungsmittelproduktion aus. Was sicher ist: Es hat definitiv Auswirkungen auf den Menschen. Selbst wenn man sich für den einzelnen kleinen braunen Käfer nicht interessiert – es kann halt sein, dass er doch eine Rolle spielt.
Die Ursachen des Rückgangs? Derzeit werden gerne die Landwirtschaft und der Klimawandel für alle Veränderungen verantwortlich gemacht.
Seibold: Wir konnten mit unseren Daten nur auf ganz grober Ebene untersuchen, wie viel landwirtschaftliche Fläche befindet sich um die untersuchte Fläche herum. Alles was wir berücksichtigen konnten ist: Wie viel Prozent Ackerfläche gibt es in einem Kilometer drum herum. Da ist der Zusammenhang statistisch klar: Die Rückgänge haben etwas mit Landwirtschaft zu tun. Aber ob es an den Spritzmitteln liegt oder am Verlust von Randstreifen, von Lebensraum – da fehlen uns noch die Daten. Aber wir wissen natürlich grundsätzlich aus anderen Studien, dass sich Pestizide und Herbizide und Monokulturen auf Insekten auswirken. Es ist sicher ein Zusammenspiel.
Auch mit der Klimaerwärmung?
Seibold: Der Klimawandel ist schwierig festzumachen. Wir haben uns das Wetter unserer Flächen für alle Jahre mit angeschaut. Natürlich kommen je nach Witterung in manchen Jahren mehr Insekten vor als in anderen, das muss man berücksichtigen. Aber wir haben keine Hinweise, dass der Klimawandel die Hauptursache ist. Man kann nicht pauschal sagen, wenn es wärmer wird, geht es den Insekten besser. Wir finden im Grünland mehr Insekten nach warmen Wintern, im Wald ist es genau anders herum. Da geht es den Insekten in Jahren mit warmen Wintern eher schlecht.
Lässt sich so ein drastischer Schwund wieder rückgängig machen – kurzfristig, langfristig?
Seibold: Die Frage ist nicht zu beantworten. Wir haben natürlich die Hoffnung. Es gibt Beispiele von einzelnen Arten, die selten waren und dann von etwas profitieren. Aber dass das Ganze so überregional weit verbreitet ist und so viele Arten betrifft, das zeigt, dass es nicht einfach wird. Es hat sich ja einiges getan mit Agrarumweltmaßnahmen in der Landwirtschaft, mit mehr Totholz im Forst - und trotzdem sehen wir die Rückgänge. Vielleicht wären sie noch viel dramatischer, wenn wir nichts gemacht hätten.

Ein Artenschutzgesetz nach dem Volksbegehren – wie schnell kann so etwas wirken?
Seibold: Das hängt sehr von der einzelnen Maßnahme ab. Grundsätzlich können Insekten mit ihren kurzen Lebenszyklen schon relativ schnell reagieren. Wenn eine Art noch da ist und sich der Lebensraum verbessert, nehmen die Populationen rasch zu. Wenn eine Art erst mal verschwunden ist, wird es problematisch. Und im Wald ist einfach alles generell langsamer. Da dauert es Jahrzehnte, bis Veränderungen sichtbare Folgen haben.
Helfen Blühstreifen?
Seibold: Alle Maßnahmen, die irgendwie Lebenraum für Insekten bieten, können einen Beitrag leisten. Sicherlich auch die Blühstreifen. Ich bin nur immer skeptisch, wenn bunte Blumenmischungen verbreitet werden, die überhaupt nichts mit den Pflanzenarten zu tun haben, die hier von Natur aus vorkommen. Da profitieren dann nur die paar generalistischen Insektenarten, denen es egal ist, was da wächst. Den vielen Spezialisten nützt das nicht. Wenn man die Fläche schon für die Insekten bewirtschaftet und kultiviert, dann sollten auch möglichst viele heimische Insekten davon profitieren.
Dann der Rat des Wissenschaftlers: Was kann jedermann sinnvollerweise für Insekten tun?
Seibold: Ob man einen Garten hat oder nicht: Jeder von uns ist in erster Linie erst einmal Verbraucher. Wir entscheiden mit unserer Produktwahl, was gekauft wird und wie es produziert wird. Wenn man bereit ist, auch mal einen Euro mehr auszugeben für ein Produkt, das biodiversitätsfreundlicher produziert wurde, ist das schon mal ein sehr sinnvoller Beitrag. Das gibt den Bauern die Chance, ihre Flächen anders zu bewirtschaften. Das betrifft jeden, das hätte die größte Wirkung.
