„Was wollen wir unternehmen, wenn Du zu mir nach Berlin kommst?“, fragte Ende 1992 mein Kollege Hans-Christian Bustorf am Telefon. „Willst Du in den Honecker-Prozess?“
"Da kommen wir nie rein"
In meinen kühnsten Träumen hätte ich das nicht erwartet. Schließlich hatte selbst unser Berlin-Korrespondent keinen der wenigen Presseplätze ergattert. „Da kommen wir nie rein“, antwortete ich. Die wenigen Plätze am Landgericht Moabit wurden unter Hunderten von Journalisten ausgelost.
Mein Kollege blieb optimistisch: „Wir werden sehen“, sagte Bustorf, der aus Bad Mergentheim stammt und mit mir sechs Jahre zuvor als Journalist in Tauberbischofsheim begonnen hatte. Inzwischen war er bei einer Sonntagszeitung in Berlin beschäftigt.
Tagesthema: Der Prozess gegen Honecker
Kurz darauf war ich in Berlin, wo es nur ein Thema gab: Der gerade begonnene Prozess gegen den Ex-DDR-Chef Erich Honecker und fünf weitere Köpfe der Staatsführung wegen der 900 Getöteten an der innerdeutschen Grenze. Der Kollege fragte: „Wäre es Dir 50 Mark wert, in den Prozess zu kommen?“
Und das funktionierte s0: Natürlich hatte auch das Volk, in dessen Namen Recht gesprochen wurde, Anspruch darauf, im Gerichtssaal anwesend zu sein. Es gab etwa 50 Plätze für normale Bürger. Aber deren Interesse hatte nach zwei Prozesstagen schon erheblich nachgelassen, wie in jedem Strafverfahren, wenn dem spektakulären Beginn die mühsame Suche nach der Wahrheit folgt.
50 Mark für Warten
Wer also als Vertreter des Volkes am dritten Verhandlungstag rechtzeitig morgens um fünf Uhr am Nebeneingang des Gerichts in Moabit Einlass begehrte, hatte gute Chancen, eine der begehrten Platzkarten zu bekommen. Und da der Einlass erst um acht Uhr war, verlangten ein Student und sein Kumpel für die Wartezeit in der Schlange als Platzreservierer je 50 Mark.
Das war es allemal wert. Für unser Geld wechselten an einem nebligen Novembermorgen im Halbdunkel vor dem Seiteneingang die Stunden zuvor ausgegebenen nummerierten Platzkarten die Besitzer. Als sich eine Stunde vor Prozessbeginn die Türen öffneten, wurden wir erst einmal gründlich durchsucht. Die Justiz hatte Angst vor Racheakten der Familien ehemaliger Maueropfer. Aus Angst vor einem Attentat mit einem Schießkugelschreiber waren Kugelschreiber, Blocks oder Notizbücher im Gerichtssaal verboten, nur lose Blätter und Bleistifte erlaubt.
Im Zuschauerraum schien es spannender zuzugehen als in der eigentlichen Verhandlung vorne am Richtertisch. Hinten wurde deutsch-deutsche Vergangenheit bewältigt, vorne routiniert ein Programm abgespult, von dem jeder wusste, dass es eh bald zu Ende sein würde: Honecker litt an Leberkrebs, konnte nur mit einem speziellen Sitzkissen auf der Anklagebank Platz nehmen und nicht länger als ein paar Stunden am Tag der Verhandlung folgen.
Gerechtigkeit, nicht Rache
Obwohl es erst der dritte Verhandlungstag war, schien jeder im Zuschauerraum ein kleiner Medienstar zu sein: die beiden alten Kommunisten ganz vorne links, die kaum noch aufstehen konnten, aber mit ihrer täglichen Anwesenheit Honecker auch jetzt noch die Treue bewiesen. Die blutjunge Kollegin vom „Neuen Deutschland“, die offenbar auf dem gleichen Weg wie wir herein gelangt war, um über den Prozess zu berichten, und jedem versicherte, dass der Kommunismus am Ende siegen würde.

Sie stritt in Prozesspausen leidenschaftlich mit einer älteren Frau daneben, die viel weinte: Es war Karin Gueffroy, die Mutter des im Februar 1989 letzten der 900 Ermordeten an der innerdeutschen Grenze. Zwischen beiden und anderen Zuhörern kam es zu hitzigen Dialogen deutsch-deutscher Vergangenheitsbewältigung. Karin Gueffroy hatte mit ihrer Strafanzeige diesen Prozess mit ermöglicht.
Die Mutter des Maueropfers
„Das hat nichts mit Rache zu tun, das hat einfach was mit Gerechtigkeit zu tun“, betonte sie immer wieder. Die Journalistin vom „Neuen Deutschland“ hielt mit Begriffen wie „Siegerjustiz“ dagegen. Das Gericht sah sich gezwungen, Wachtmeister hinter den Frauen zu postieren, damit sie nicht handhandgreiflich wurden.
Während wir auf den Beginn des Verhandlungstages warteten, stieß mir der Kollege übermütig seinen Ellbogen in die Rippen: „Wetten, dass mir Erich Honecker Guten Tag sagt?“, fragte er. Ich hielt verwundert dagegen: „Du kommst aus Bad Mergentheim und der kennt dich doch gar nicht! Warum sollte er?“ Der Kollege blieb hartnäckig. „Eine Flasche Schampus, dass er mich persönlich begrüßt“, insistierte er. Ich schlug ich ein.
Und Honecker grüßte...
Wenig später wurde der Angeklagte hereingeführt, klein, spitznasig und blass. Die beiden Alten vorne links rappelten sich auf, ballten die rechte Hand zum kommunistischen Gruß – und neben ihnen stand mein Kollege, rief Honecker zu: „Erich, Rotfront!“ und winkte, als gehöre er dazu. Honecker lächelte – und winkte zurück.
Vom Prozess selbst ist wenig Erwähnenswertes in Erinnerung geblieben: vielleicht, dass der selbstverliebte Vorsitzende Richter Hans Georg Bräutigam schon da mehr herumschnauzte als dem Prozess guttat. Dass Erich Honecker wirklich ein kleines Männchen war und – wenn er mal was sagte – tatsächlich die Endsilben verschluckte und mit dieser hohen Kastratenstimme sprach, über die wir uns als Westkinder schon lustig gemacht hatten.
Ist Honecker wirklich Honecker?
Und da war noch der Nebenklage-Anwalt Hans-Ekkehard Plöger, der Verwandte eines Maueropfers vertrat und seine Tüchtigkeit mit ebenso spektakulären wie sinnfreien Anträgen vor Gericht zu beweisen versuchte.
An jenem dritten Prozesstag sorgte er für Aufmerksamkeit, indem er einen Antrag zur Feststellung der Identität des Angeklagten stellte. Er behauptete nämlich allen Ernstes, der Mann auf der Anklagebank sei gar nicht Honecker, sondern nur ein täuschend echtes Double, das die Stasi rechtzeitig untergeschoben habe, um die Flucht des echten Honecker zu verschleiern.
Ein Schaufenster-Antrag in den Nachrichten
An jenem Mittag schaffte es dieser Schaufenster-Antrag des Nebenklage-Anwalts der Maueropfer immerhin in die Nachrichten. Als wir das Gericht in Moabit verließen, brüllten uns die Schlagzeilen der Berliner Boulevard-Zeitungen schon entgegen: „Ist Honecker wirklich Honecker?“ Daneben sah man ein Bild des Angeklagten, wie er beim Betreten des Gerichtssaals etwas verkniffen meinem Kollegen zuwinkte. So kostete mich Erich Honecker am Ende 50 Mark und eine Flasche Champagner – ich meine, kein zu hoher Preis für dieses historische Ereignis.
Sechs Wochen später endete am mit Honeckers Haftentlassung einer der spektakulärsten Prozesse der Nachkriegszeit ohne Urteil. Die Kammer gab am 12. Januar 1993 einer Verfassungsbeschwerde des Angeklagten statt und setzte ihn auf freien Fuß. Das Verfahren verletze Honeckers Menschenwürde, urteilen die Richter, weil der Angeklagte "aufgrund seiner weit fortgeschrittenen Krebserkrankung den Abschluss des Verfahrens vor der Strafkammer, der nach Auffassung des Kammergerichts frühestens für das Jahresende 1993 zu erwarten ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben wird".
Zufrieden mit dem Prozess?
17 Jahre später war ich im Frühjahr 2009 wieder in Berlin. Und hörte zufällig im Radio ein Interview mit Karin Gueffroy, der Mutter des letzten Mauertoten. Ob sie aus heutiger Sicht mit dem Prozess gegen Honecker und andere Verantwortliche zufrieden sei?
Karin Gueffroy antwortete: „Ich weiß nicht, wie viele hundert Seiten die Anklageschrift hatte. Aber die mussten sie sich anhören, ob sie wollten oder nicht. Und sie mussten still sein, sie mussten ihren Mund halten - das war schon erhebend für mich.“
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