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Würzburg: "Ein Teil von mir ist dortgeblieben": Wie ein Rentner in Ostpreußen den Krieg kennenlernte und in Würzburg Frieden fand

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"Ein Teil von mir ist dortgeblieben": Wie ein Rentner in Ostpreußen den Krieg kennenlernte und in Würzburg Frieden fand

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    Klaus Philipowski lebt seit den 70er Jahren in der Würzburger Sanderau. Der Frieden, den der Ostgeflüchtete mit seiner Familie dort erleben durfte, ist für ihn nicht selbstverständlich. 
    Klaus Philipowski lebt seit den 70er Jahren in der Würzburger Sanderau. Der Frieden, den der Ostgeflüchtete mit seiner Familie dort erleben durfte, ist für ihn nicht selbstverständlich.  Foto: Benjamin Brückner

    Klaus Philipowski steht an einem Vormittag im Mai mit seinem Rollator am Rand des Würzburger Sanderrasens und blickt in die Ferne. Jahrzehntelang hat er hier Sport getrieben. Heute, mit fast 90 Jahren, kann er nur noch anderen dabei zuschauen.

    Der Sanderrasen ist sein Lieblingsort in seiner Wahlheimat Würzburg, sagt er: "Hier habe ich meinen Frieden gefunden." Dieses Gefühl ist für Philipowski nicht selbstverständlich. Denn bevor er mit seiner seiner Enkelin, die diese Zeilen aufgeschrieben hat, über den Frieden in Würzburg sprechen kann, hat er den Krieg kennengelernt.

    So wie im Januar 1945, als Philipowski auf kaltem Steinboden in Elbing in der ehemaligen deutschen Provinz Ostpreußen sitzt. Er blickt auf seine schlafende Mutter, die seinen kleinen Bruder im Arm hält. Seit Tagen versteckt sich die Gruppe, hauptsächlich Frauen und Kinder, im Gewölbekeller. Die Jüngeren werden immer unruhiger. Elbing steht unter Beschuss. Der Himmel ist rot, orange und violett gefärbt, es herrscht ohrenbetäubender Lärm. So erzählt Philipowski es heute.

    Würzburger Rentner erinnert sich: "Die Wut wurde an den Frauen ausgelassen"

    Bei jedem Knall zuckt sein jüngeres Ich zusammen. Er fürchtet nicht nur die Bomben der Alliierten, sondern auch die vorrückenden Soldaten der Sowjetunion. Ein lautes Krachen weckt die Versteckten im Gewölbekeller. Soldaten stürmen herein und schreien in einer Sprache, die Klaus Philipowski nicht versteht. Kinder weinen und werden ihren Müttern entrissen. Philipowski schließt die Augen. Im Keller geschieht Schreckliches. "Die Wut wurde an den Frauen ausgelassen", sagt Philipowski.

    Im Westen Ostpreußens, kurz vor der Grenze des Deutschen Reiches, liegt Elbing.
    Im Westen Ostpreußens, kurz vor der Grenze des Deutschen Reiches, liegt Elbing.

    Klaus Philipowski ist einer von zehn bis zwölf Millionen Ostgeflüchteten. Das ist laut Bayerischer Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (BLB) die Bezeichnung für Menschen, die aus den damaligen östlichen Gebieten des Deutschen Reiches gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland kamen. Dabei unterscheidet die BLB zwischen Geflüchteten, die ab 1944 vor der vorrückenden Sowjetarmee flohen, und Vertriebenen, die den Einmarsch erlebten und gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen. Philipowski und seine Familie gehören zur letzteren Gruppe.

    Ab Januar 1945 sei es zu spät für eine Flucht in sichere Gebiete gewesen, sagt Sebastian Husen. Er ist Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft Ostpreußen, dem Verband der Geflüchteten und Vertriebenen aus dem ehemaligen Gebiet Ostpreußen. Die sowjetischen Truppen hätte die Fluchtwege über das Land abgeschnitten, sagt Husen. Der Zug- und Schiffverkehr sei eingestellt worden. Diejenigen, die nicht mehr fliehen konnten, seien der Roten Armee ausgeliefert gewesen.

    Über diese Route kam Klaus Philipowski von Ostpreußen nach Würzburg

    "Sowjetische Soldaten haben gegen Ende des Krieges etwa zwei Millionen Vergewaltigungen begangen", sagt Husen im Gespräch mit der Redaktion. Viele Nachkommen der Opfer litten unter diesem Trauma noch heute. Die Zahl von zwei Millionen Opfern wird oftmals in der Literatur zitiert. Nach Angaben des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags ist sie jedoch nicht umfassend durch Quellen belegt.

    Zahlreiche Ostgeflüchtete kamen nach dem 2. Weltkrieg nach Bayern. Im Bild:  Geflüchtete oder vertriebene Familien kommen in Sulzheim bei Schweinfurt an. (Archiv)
    Zahlreiche Ostgeflüchtete kamen nach dem 2. Weltkrieg nach Bayern. Im Bild:  Geflüchtete oder vertriebene Familien kommen in Sulzheim bei Schweinfurt an. (Archiv) Foto: Ahles

    Wenige Monate nach den Ereignissen im Keller sitzt Klaus Philipowski neben seiner Mutter in einem Güterzug nach Berlin. Den kleinen Bruder hat er auf dem Schoß. Die Monate nach dem Einfall der Soldaten hatten sie unter polnischer Verwaltung gelebt. Ihre Habseligkeiten mussten sie bei der Ausreise zurücklassen. Die Frauen singen im Zug Heimatlieder, einige weinen. Philipowski denkt an Elbing zurück. Ob er je wieder dorthin zurückkehren wird, weiß er nicht.

    "Die ersten Jahre waren schwer", sagt der Würzburger heute über die Zeit in Nachkriegsdeutschland. Er berichtet von Armut und Ausgrenzung. Als Ostgeflüchteter habe er sich nicht immer willkommen gefühlt. Auch die Sehnsucht nach seinem Zuhause plagte ihn. Nach Zwischenstopps in Berlin, Halle und Hammelburg führte ihn sein Beruf als Verwaltungsangestellter bei der Bundeswehr schließlich nach Würzburg. Er beschloss, in Unterfranken ein neues Leben aufzubauen.

    In Würzburg konnte Philipowski zum ersten Mal nach der Vertreibung ankommen

    1,9 Millionen Menschen wie Philipowski kamen nach Angaben Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch Flucht oder Vertreibung nach Bayern. Dieser Bevölkerungszuwachs von 26 Prozent der Bevölkerung stellte den Freistaat in den direkten Nachkriegsjahren vor erhebliche Herausforderungen. Fragen zur Verteilung, Unterbringung und Arbeitsbeschaffung für die oft völlig besitzlosen Menschen mussten gelöst werden.

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    Heute sind diese Fragen zumindest für die damaligen Ostflüchtlinge gelöst. Statt Bomben und Sirenen hört Philipowski an einem Freitagvormittag im Mai nur das Geräusch der Kaffeemaschine. In seiner Wohnung im Würzburger Stadtteil Sanderau lebt der Rentner seit den 70er Jahren. An den Wänden hängen Fotos seiner Familie und seiner Heimatstadt Elbing. Während er von seinem Leben erzählt, blickt er auf das eingerahmte Wappen seiner Landsleute. "Vergessen werde ich meine Heimat nie", sagt er andächtig. "Ein Teil von mir ist dortgeblieben."

    Dennoch habe auch die Stadt Würzburg einen festen Platz in seinem Herzen, sagt Philipowski: "In Würzburg bin ich das erste Mal angekommen, seitdem ich meine Heimat verlassen musste." Hier habe er Gemeinschaft gefunden. Besonders geholfen hätten ihm dabei der Sport und sein Glaube. Er spielte viele Jahre Handball bei der DJK und ist in der Kirchengemeinschaft in der Sanderau aktiv.

    In Würzburg sind Philipowskis beide Töchter und seine Enkelin aufgewachsen. Und trotzdem fehle immer ein Teil von ihm, sagt der Großvater.

    Dankbarkeit für den Frieden, den seine Familie in Würzburg erleben darf

    40 Jahre nach der Vertreibung kehrt er das erste Mal nach Elbing zurück. Davon berichtet er im Gespräch mit seiner Enkelin enttäuscht. Die Stadt sieht anders aus als in seinen Erinnerungen. Die Menschen sprechen nicht mehr dieselbe Sprache. "Die Heimat, die ich kannte, ist mit den Bomben untergegangen."

    Klaus Philipowski hält das Wappen seiner ehemaligen Landsmannschaft in Ostpreußen in die Kamera.
    Klaus Philipowski hält das Wappen seiner ehemaligen Landsmannschaft in Ostpreußen in die Kamera. Foto: Benjamin Brückner

    Wenn er heute am Rand des Sanderrasens steht, fühlt Klaus Philipowski dennoch vor allem Dankbarkeit. Für das Leben, das er mit seiner Frau in Würzburg aufbauen konnte. Und für die Familie, die hier in Frieden leben darf und von den Schrecken verschont bleibt, die er selbst erlebt hat.

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