Ehrfürchtig steht Roland Weigand in einem kleinen Raum und sagt: „Genau hier ist es passiert.“ An einem späten Freitagabend macht Prof. Dr. Wilhelm Conrad Röntgen in seinem Würzburger Institut eine sensationelle Entdeckung, von der die Gesellschaft bis heute profitiert. Weigand, Leiter der Röntgen-Gedächtnisstätte, erzählt: „Als sich am 8. November 1895 im ehemaligen Physikalischen Institut der Universität Würzburg ‚keine dienstbaren Geister mehr im Hause befanden‘, wie Röntgen selbst notierte, experimentierte der Physikprofessor. Und entdeckte dabei ganz zufällig die Röntgenstrahlen.“
Und das kommt so: Wilhelm Conrad Röntgen will an jenem Abend bekannte Versuche mit sogenannten Kathodenstrahlen nachstellen, mit denen auch schon der Physiker Philipp Eduard Lenard experimentiert hatte. Die Physiker jener Zeit interessieren sich für Leuchterscheinungen in einer Vakuumröhre, die durch Hochspannung erzeugt werden. So lässt sich auch Röntgen Röhren anfertigen und benötigt mehrere Tage, bis sie vakuumiert sind. „Dann schloss der Physiker einen Funkeninduktor an und erzeugte eine Spannung von 60.000 bis 65.000 Volt“, sagt Roland Weigand. Bei jeder Entladung fluoresziert das Licht. Der nachgestellte Versuch glückt – aber es passiert noch weit mehr.
Die Farbschicht auf dem Lampenschirm gab den Hinweis
Röntgen hatte im Gegensatz zu Lenard seine Röhre mit schwarzem Karton umhüllt und will herausfinden, welche Strahlen die Pappe durchdringen. „Zufällig sah Röntgen dasselbe fluoreszierende Licht auf dem Stoff Platincyanür, mit dem er einen Leuchtschirm auf seinem Schreibtisch bestrichen hatte“, sagt der Leiter der Gedächtnisstätte. Röntgen schiebt den Schirm immer weiter von der Röhre weg und bemerkt, dass das Leuchten zwar schwächer wird, aber doch viel deutlicher bleibt als bei den Kathodenstrahlen.

„Röntgens Verdienst war es nun, die Beobachtung nicht zu ignorieren“, schwärmt Weigand. Und so legt der Forscher alle möglichen Materialien in den Weg der Strahlen: Holz, Bücher, Glas, Kochsalz, Zinkstaub. Schnell bemerkt er, dass die Strahlen durch einige feste Körper hindurchgehen, aber manche Dinge wie Metalle einen sichtbaren Widerstand bieten. Röntgen nennt seine Entdeckung X-Strahlen, nach der Unbekannten in der Mathematik. Doch er glaubt zunächst selbst nicht, was er sieht. Erst als Röntgen Fotopapier zu Hilfe nimmt und erste Bilder entstehen, weiß er: Diese Entdeckung ist bahnbrechend.
Nur die Ehefrau war eingeweiht
Trotzdem weiht er außer seiner Frau niemanden ein und erzählt auch ihr nur, er habe etwas gefunden, von dem die Menschen sagen werden: „Der Röntgen ist wohl verrückt geworden.“ Sein erstes Röntgenbild zeigt einen Satz Bleigewichte, die er durch ein geschlossenes Holzkästchen fotografiert. Am 22. Dezember 1895 bittet der Wissenschaftler seine Frau Bertha, ihre Hand auf eine fotografische Platte zu legen, die in schwarzen Karton gehüllt ist: Das erste Bild einer menschlichen Hand entsteht, mit Ring am Finger.
„Nun verbrachte Röntgen sechs Wochen lang ununterbrochen im Labor, ließ sich dort sogar ein Bett aufstellen und das Essen bringen“, berichtet Roland Weigand, während er in diesem Raum steht. „Dabei wohnte er als Direktor des Physikalischen Instituts nur ein Stockwerk darüber.“ Nach zahlreichen Experimenten überreicht Röntgen dem Vorsitzenden der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft Würzburg am 28. Dezember ein Manuskript. Und dann geht es rasant. Die Entdeckung der X-Strahlen wird in den folgenden Monaten in viele Sprachen übersetzt und geht in mehreren Auflagen um die Welt. Schon 1896 erhält der Wissenschaftler den Ehrendoktor der Medizin – nicht der Physik. Denn die Umwelt hatte schnell begriffen, was man mit den Strahlen anfangen könnte.
Den Entdecker störte der Rummel um seine Person
Während die Fachwelt begeistert ist, stört Röntgen der Rummel um seine Person. „Er war Physiker aus Leidenschaft, er wollte das Phänomen verstehen und kümmerte sich nicht um die Anwendung“, sagt Roland Weigand und verdeutlicht: „Röntgen hatte über 70 Veröffentlichungen. Nur drei davon widmete er den X-Strahlen.“ Auch der Physiker selbst schreibt an seinen Freund und Kollegen Ludwig Zehnder: „Mir war nach einigen Tagen die Sache verekelt; ich kannte aus den Berichten meine Arbeit nicht wieder. Das Photographieren war mir Mittel zum Zweck, und nun wurde daraus die Hauptsache gemacht.“
So verwundert es nicht, dass der Forscher seine Beobachtung nie patentieren ließ. „Man kann sagen, Röntgen schenkte der Menschheit seine Entdeckung“, sagt Weigand. Die X-Strahlen werden nach Röntgens beeindruckendem Vortrag vor der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft Würzburg am 23. Januar 1896 auf Vorschlag des Medizinprofessors Albert von Koelliker in Röntgensche Strahlen umbenannt. Der Rest ist bekannt: Die Entdeckung findet Eingang in die Allgemeinmedizin, wo den Ärzten zunächst die Hände abfaulen, weil sie an der offenen Röhre arbeiten. „Bis in die 1960er-Jahre hinein war kein Strahlenschutz vorgeschrieben“, erläutert Roland Weigand. Er führt in der Gedächtnisstätte gern Besucher in die faszinierende Materie ein. „Schließlich sind die Strahlen aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken“, sagt er.
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