Wie kann eine Stadt einen Umgang mit einer Gräueltat finden, einer tödlichen Jagd auf Menschen inmitten in der Innenstadt an einem unbeschwerten Sommernachmittag? Wie kann Würzburg, wie können die Bürgerinnen und Bürger verarbeiten, was am 25. Juni 2021 am Barbarossaplatz geschehen ist? Und wie beeinflusst eine solche Tat – begangen von einem Somalier, der nach Deutschland geflohen war – das Zusammenleben einer Zivilgesellschaft mit all ihren Nationalitäten und Ethnien?
Eine Annäherung an diese Fragen wurde am Donnerstag, zwei Tage vor dem ersten Jahrestag der Messerattacke, in der Domschule gewagt – zufriedengestellt hat der Abend die Zuhörenden nicht. Klar wurde: Würzburg und seine Menschen haben noch einen langen Weg vor sich, bis diese Antworten gefunden sind.

Unter dem Titel "Gemeinsames Nachdenken über die Gewalttat am Barbarossaplatz" war der Plan für den Abend simpel: Nach einem Grußwort von Oberbürgermeister Christian Schuchardt sollte die Theologin Hildegund Keul von der Uni Würzburg zum Thema "Vulnerabilität", zu deutsch Verwundbarkeit, referieren. Danach waren die Journalistin Carolin Hasenauer vom Bayerischen Rundfunk und Stephanie Böhm vom Bündnis für Demokratie und Zivilcourage auf dem Podium zu Gast, um mit Keul, der Moderatorin Sarah Morcos und den Zuhörenden gemeinsam zu diskutieren.
Schon die Ansprache von Schuchardt sorgt für erstes empörtes Schnauben. Der Schirmherr der gemeinsamen Veranstaltung der Akademie Frankewarte, Akademie Domschule und dem Bündnis für Demokratie und Zivilcourage beginnt mit einem Satz, über den noch Konsens herrscht: "Die Tat hat ganz Würzburg ins Herz getroffen", sagt er und beschreibt die Bandbreite der Emotionen: Entsetzen, Fassungslosigkeit, Trauer, Wut aber auch Empathie, Hilfsbereitschaft und Mitgefühl.
Schuchardt und Keul spannen den Bogen zur Flüchtlingsthematik – manchen geht das zu weit
Aber Schuchardt spannt den Bogen weiter. Nach dem 25. Juni sei klar gewesen: "Es geht um nicht weniger als um den gesellschaftlichen Frieden." Er erzählt von rassistischen Drohbriefen, die er nach der Tat bekommen habe, und erinnert an eine Wunde, die Würzburg bereits hatte: das Axt-Attentat von 2016.
Er spricht von Rechtsradikalen, die die Messerattacke instrumentalisierten, um die Gesellschaft weiter zu spalten und Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen, und gibt zu bedenken, dass die Tat in eine Zeit fiel, in der die Gesellschaft pandemiebedingt ohnehin schon auf dem Weg der Spaltung war. Und er sagt auch, wie schwierig die Integration der Menschen mit Fluchtgeschichte teilweise sei. "Aber was ist die Alternative?", so seine Frage in den Raum. "Alle diese Menschen elend im Mittelmeer ertrinken zu lassen? Und sind es nicht die Zuwanderer, die uns auch zu unserem heutigen Wohlstand verholfen haben?" Damit sind nicht alle Zuhörenden einverstanden, es wird bei manchen hektisch getuschelt während andere zustimmend nicken.
„Weil man sich verletzbar fühlt und angreifbar, verletzt man selbst. Das sehen wir auch im Bezug auf Rechtsradikale.“
Theologin Hildegund Keul
Auch Hildegund Keul greift zunächst diese Themen auf: Sie spricht von der Verwundbarkeit der Flüchtenden an den europäischen Außengrenzen und versucht zu erklären, wie letztlich auch das Gefühl der eigenen Verletzbarkeit zu Gewalt führen kann – bei den Menschen, die schon immer hier leben, und denen, die erst nach Deutschland gekommen sind: "Weil man sich verletzbar fühlt und angreifbar, verletzt man selbst. Das sehen wir auch im Bezug auf Rechtsradikale."
Zwei Zuhörerinnen verlassen nach Wortgefecht wütend den Saal
Das geht zwei Zuhörerinnen zu weit: "Ich kann mir das nicht länger anhören", unterbricht eine von ihnen Keul. "Hier wird alles schöngeredet! Hier geht es nicht um die Opfer! Ich stand in der Nähe, als er zugestochen hat!" ruft ihre Begleitung. Der Oberbürgermeister wird beschimpft, es entsteht ein Wortgefecht zwischen ihm, den Frauen, einigen Zuhörenden und Keul, die versichert, in ihrem Vortrag würden auch die Opfer noch zum Thema. Darauf wollen die zwei Frauen nicht warten, nach einigen Minuten lautstarker Diskussion stürmen sie aus dem Saal.

Keul ist kurz angefasst, hangelt sich aber an den Punkten ihres Vortrags weiter. Sie spricht davon, wie verletzbar wir alle sind, eben weil wir uns in einer eigentlich so sicheren Umwelt wähnen. Sie erklärt das paradoxe Verhalten, das Menschen an den Tag legen, wenn sie sich selbst in Lebensgefahr bringen, um andere zu retten: "Weil wir die Fähigkeit haben, einander beizustehen."
Keul spannt den Bogen zu den Pariser Bataclan-Anschlägen und der Macht, die wir über unsere eigene Verletzbarkeit haben, je nachdem, wie viel Hass wir bereit sind, jemandem zu geben. Sie erklärt, dass es für die Verarbeitung eines gesellschaftlichen Traumas auch entscheidend ist, welche gesellschaftlichen Rituale dafür gefunden werden, und zuletzt geht es auch noch um die Bedeutung des Wortes "verschmerzen". Kurz: Es ist ein hastiger Ritt durch das komplexe Forschungsfeld der Expertin.
"Dieser Abgang war ein Hilfeschrei."
Ein Zuhörer nach dem Abgang der beiden empörten Frauen
In der anschließenden Gesprächsrunde zwischen Hildegund Keul, Carolin Hasenauer, Sephanie Böhm, Moderatorin Sarah Morcos und dem Publikum geht es wieder um die beiden wütenden Frauen. "Dieser Abgang war ein Hilfeschrei", sagt ein Zuhörer und fügt an: "Die haben sich nicht gesehen gefühlt in ihrer Verletztheit."

"Man merkt, dass vieles einfach noch nicht verarbeitet ist", pflichtet ihm eine weitere Zuhörerin bei. Und auch Carolin Hasenauer auf dem Podium sagt: "Am wichtigsten ist, dass wir allen gleichermaßen zuhören."
Auch die Veranstalter werden ihre Lehren aus der Veranstaltung ziehen
"Ich war selbst kurz davor zu gehen", drückt eine andere Zuhörerin ihr Verständnis für die beiden Frauen aus. Eine weitere bezeichnet das Vorgetragene als "Gedöns" und erntet wiederum empörte Rufe. "Hier gilt es, viele Perspektiven zu hören und das ist schwer auszuhalten", versucht es Moderatorin Sarah Morcos am Ende diplomatisch und fügt selbstkritisch an: "Wir müssen überlegen, wie wir künftig solche Veranstaltungen organisieren. Wir können aus dem heutigen Abend viel lernen."
Versöhnliche Worte findet Stadträtin Silke Trost am Ende: "Wir brauchen alle noch viel mehr Zeit, zu verarbeiten und zu trauern. Jeder hat da ein anderes Tempo und ein Jahr ist bei so einer Tragödie nichts." Und auch wenn es schwierig ist, nach einem solchen Abend einen Konsens festzustellen, ist eines klar: Würzburg steht noch ganz am Anfang einer langen Aufarbeitung.