Dass sie die ersten zwei Lebensjahre eine "Schwester" namens Bärbel hatte, wusste Elsa Prinz ihr Leben lang. Dass diese Bärbel später als Barbara Stamm Karriere in der großen Politik gemacht hat, erfuhr Elsa Prinz aber erst 2003 – im Alter von 53 Jahren. Barbara Stamm war da schon 59. Seitdem pflegten die beiden Frauen ihre wiederentdeckte "Schwesternschaft".
Nach dem Tod der CSU-Politikerin ist die Bestürzung auch bei Elsa Prinz groß. An diesem Freitag nimmt sie an den Trauerfeierlichkeiten in Würzburg teil. Doch so groß der Verlust auch sei, die 72-Jährige aus Bad Mergentheim (Lkr. Main-Tauber) ist dankbar für die gemeinsame Zeit mit Barbara Stamm, die ihr und ihrer Familie so lange verwehrt geblieben war.

Gleich nach der Geburt am 29. Oktober 1944 gibt die gehörlose Mutter ihre Tochter Barbara in eine Pflegefamilie. Im Bad Mergentheimer Stadtteil Löffelstelzen wächst das Mädchen sehr geborgen auf einem Bauernhof auf. 1950 dann erblickt Elsa das Licht der Welt. Ein Bild aus dieser Zeit lässt erahnen, wie stolz die sechsjährige Bärbel auf ihre kleine "Schwester" ist.
Der plötzliche Wendepunkt kam im Jahr 1952: Eines Tages holt die leibliche Mutter, von der Bärbel bis dahin nichts wusste, ihre Tochter zu sich nach Bamberg. Für Barbara Stamm beginnen schlimme Zeiten: Die behinderte Mutter ist mit der Erziehung komplett überfordert, der Stiefvater alkoholkrank und gewalttätig. Immer wieder muss die Jugendliche zeitweise ins Heim, die höhere Schule wird ihr trotz guter Noten verweigert.
Jugendamt verbietet den Kontakt zur Pflegetochter
Die frühere Pflegefamilie bekommt von alledem nichts mit. "Das Jugendamt hat meinen Eltern verboten, Kontakt zu Bärbel aufzunehmen", sagt Elsa Prinz. Alle Fragen nach dem Wohlergehen ihres Pflegekindes verhallen unbeantwortet. Derweil bleibt das Mädchen in der Familie unvergessen. "In vielen Erzählungen meiner Eltern war sie präsent", erinnert sich die 72-Jährige an ihre Kindheit und Jugend. "Vor allem für meinen Vater war Bärbel das Ein und Alles." Voller Wehmut habe er von ihr geredet, sich an gemeinsame Ausfahrten mit dem Traktor erinnert.

Ein Lebenszeichen von ihrer Pflegetochter bekommen die Eltern bis zu ihrem Tode nicht. In einem Filmporträt des Bayerischen Fernsehens sagt Barbara Stamm 2019, sie habe so gut wie keine Erinnerungen an ihre ersten acht Lebensjahre in Löffelstelzen. Deshalb habe sie auch nie nach ihrer Pflegefamilie geforscht. Elsa Prinz hat eine Erklärung: "Zu groß war wohl der Schock, als sie plötzlich aus unserer Familie gerissen wurde."

Stamms "Schwester" hat längst ihre eigene Familie, als sie ein älterer Bürger aus Löffelstelzen im Jahr 2003 anspricht. "Ihr hattet doch mal ein Pflegekind, ich glaube, ich weiß, wer das ist", sagt der Mann. Elsa Prinz ist elektrisiert, als sie den Namen Barbara Stamm hört. Zuerst versucht sie eine Kontaktaufnahme über örtliche CDU-Politiker, greift dann aber selbst zum Telefon und ruft in Würzburg an. Ludwig Stamm, der Ehemann der CSU-Politikerin, ist am Apparat, hört sich die Geschichte an – und verspricht einen Rückruf.
Erstes Gespräch an Weihnachten 2003
Weihnachten 2003 ist es schließlich soweit. Familie Prinz mit den beiden Kindern und fünf Enkelkindern sitzt beisammen, als sich Barbara Stamm am Telefon meldet. "Ich habe am ganzen Leib gezittert, war sehr aufgeregt und doch so glücklich, dass ich die Bärbel wiedergefunden habe", erinnert sich Elsa Prinz. Bald schon treffen sich die beiden "Schwestern" auch persönlich, sie finden über die Jahre ein herzliches Verhältnis miteinander. Auch die Familien lernen sich kennen, allen voran die beiden Ehemänner, Ludwig Stamm und Herbert Prinz. Man trifft sich – mal in Würzburg, mal in Bad Mergentheim zu Familienfeiern. "Es war ein schönes Miteinander."

Trotz der politischen Verpflichtungen nimmt sich die CSU-Politikerin Zeit für die wiedergefundene Pflegefamilie. "Einmal sind wir auch nach München gefahren, da hat sie uns durch den Landtag geführt und ihren Arbeitsplatz gezeigt", sagt Elsa Prinz. Dass ihre "Schwester" sich vor allem als Anwältin der sozial Benachteiligten in der Politik einen Namen gemacht hat, verwundert die 72-Jährige nicht. "Wer so eine Kindheit hatte, der weiß, wo soziale Unterstützung gefragt ist."
Heuer im August beim Geburtstag von Ludwig Stamm sehen sich die beiden Frauen zum letzten Mal. Kurz bevor sie Ende September ins Krankenhaus kommt, plaudern sie noch einmal am Telefon. "Haltet euch den 29. Oktober frei", habe Barbara Stamm am Ende gesagt. Da wolle sie mit der Familie ihren 78. Geburtstag feiern, "wenn ich es noch erlebe".