Früher Nachmittag in Röttingen: Eltern machen sich auf den Weg zum Kindergarten, Radtouristen legen eine Pause ein, eine Gruppe junger Menschen steuert ein Café an. Sie alle kommen an der Europa-Flagge und dem Brunnen am Marktplatz vorbei, dessen Halbkreisbogen im Pflaster das Euro-Symbol darstellt. In der Tourist-Information im Rathaus erinnert die Original-Proklamationsurkunde an das historische Ereignis von 1953: Röttingen wird „Europastadt“– und ist damit die erste Deutschlands. Flagge, Brunnen und Urkunde – all dies sind äußere Zeichen, die auf den europäischen Geist in der Stadt hinweisen sollen. Doch welche Rolle spielt Europa heute in den Köpfen und Herzen der Menschen in Röttingen?
Eine Gruppe von Touristen hat ihre Räder abgestellt und studiert die Inschrift am Euro-Brunnen. Dass Röttingen Europastadt ist, haben die Münchner bis eben noch nicht gewusst. Europa ist für die drei 70-Jährigen wichtig. „Ich habe Angst, dass sich die Europäische Union auflösen könnte“, sagt eine der Frauen, und ihr Mann ergänzt: „Es ist ein Problem, dass manche Mitgliedsstaaten nur Rechte, aber keine Pflichten haben wollen.“ In einer globalisierten Welt könne nicht jeder sein eigenes Süppchen kochen, so das Fazit der drei. Da sie am Wahlsonntag zur Europawahl nicht zuhause sein werden, haben die Münchner bereits per Briefwahl gewählt.
"Für mich ist Europa mein Arbeitsplatz."
Mitglied des Ensembles der Frankenfestspiele Röttingen zur Bedeutung von Europa
Europa steht unter anderem für viele Annehmlichkeiten im Alltag: Freies Reisen, eine einheitliche Währung – für viele, insbesondere jüngere Menschen, sind dies Selbstverständlichkeiten. „Für mich ist Europa mein Arbeitsplatz“, sagt ein Mitglied des Ensembles der Frankenfestspiele Röttingen. Der 34-jährige Musicaldarsteller war schon in verschiedensten europäischen Ländern tätig, von Griechenland, Italien und Spanien bis hin zu Kroatien. Seine 32-jährige Kollegin schätzt an Europa das einfache Reisen. Ansonsten habe das Thema in ihrem Alltag keine allzu große Bedeutung, so die Schauspielerin und Sängerin.

„Es ist schwer zu vermitteln, dass es einmal anders war“, sagt Marianne Düll. Für die Freiheiten, die die heutigen Bürger der EU genießen, hat Marianne Düll vor über 66 Jahren mit viel Herzblut gekämpft. Zusammen mit etwa einem Dutzend anderer Jugendlicher setzte sich die 82-jährige gebürtige Röttingerin, die heute in Fulda lebt, für den Gedanken eines vereinten Europas ein. Auf die Initiative von Elmar Düll, dem Bruder ihres späteren Mannes, gründeten die jungen Röttinger im Juli 1953 eine Kreisgruppe des Bundes Europäischer Jugend und trieben die Idee voran, Röttingen zur Europastadt auszurufen. Nachdem auch der Stadtrat zugestimmt hatte, bekam das Städtchen am 30. August 1953 den Titel. Beim offiziellen Festakt schmückten Fahnen den Marktplatz; Menschen und Medienvertreter aus ganz Europa waren zu Gast.
„Wir haben einen großen Drang nach draußen verspürt, wir wollten raus in die Welt“, beschreibt Marianne Düll am Telefon die damalige Motivation der Gruppe. Gleichzeitig stand ein weiterer Gedanke im Mittelpunkt: nie wieder Krieg. Für die 82-Jährige ist Europa ein kostbares Gut, das es zu bewahren gilt. „Was ist, wenn das Konstrukt der EU auseinander fällt? Wollen wir die Grenzen von früher wieder?“, fragt sie. „Europa stellt für mich eine Wertegemeinschaft dar – in der Länder, die es sich leisten können, andere unterstützen.“ Mit den Menschen anderer Nationen im Gespräch sein, die eigene kleine Welt verlassen können – „es ist wichtig, dass es so bleibt“, ist Düll überzeugt.

Am Marktplatz eilt unterdessen eine Frau vorbei. „Man kommt nicht mehr um Europa herum“, so ihre nüchterne Einschätzung. Obwohl sich die 57-Jährige nichts davon verspricht, will sie am Sonntag zur Wahl gehen. „Man kennt die Leute, die zur Wahl stehen, ja gar nicht“, sagt sie und lacht trocken. „Ich glaube den Kandidaten ihre Wahlversprechen eh nicht.“ Und: „Die Gemeinderatswahlen wären für mich wichtiger.“
Sich für Europa zu engagieren und Mitstreiter zu finden, scheint schwierig geworden zu sein. Hans Metzger aus Riedenheim, Vorsitzender der Europa-Union Röttingen, sucht verzweifelt einen Nachfolger für sein Amt. „Wir sind noch 15 Mitglieder“, sagt der 82-Jährige, die meisten davon seien über 70 Jahre alt. „Wir sind überparteilich und werben für alle Parteien für das Thema Europa, indem wir zum Beispiel Werbematerialien verteilen“, erklärt er die Aufgabe seines Verbands. Es sei schon länger „sehr ruhig“ in der Europa-Union Röttingen, sagt er, auch im Vorfeld der Wahl sei nicht mehr los gewesen als sonst.
"Es darf nie passieren, dass eins meiner Kinder oder Enkelkinder mit dem Gewehr in ein Nachbarland einmarschieren muss.“
Hans Metzger, Vorsitzender der Europa-Union Röttingen
Für Metzger ist Europa nach wie vor ein großes Thema: „Wir leben heute alle so gut, weil es Europa gibt“, sagt er mit Nachdruck. Die Erfahrung, wie es ohne Europa wäre, könne man den Jüngeren aber nicht vermitteln.“ Metzger sieht sich in erster Linie „als Deutscher und Franke“, ist aber davon überzeugt, dass die europäischen Staaten nur gemeinsam stark sind. „Ein konfliktfreies Europa kann man nur erhalten, wenn die Mitgliedsstaaten zusammenbleiben.“ Wie Marianne Düll ist der 82-Jährige von den Erfahrungen eines Krieges geprägt: „Es darf nie passieren, dass eins meiner Kinder oder Enkelkinder mit dem Gewehr über der Schulter in ein Nachbarland einmarschieren muss.“
„Ich wünsche mir, dass Europa mindestens so bleibt, wie es ist, und dass sich radikale Kräfte nicht durchsetzen“, bekennt sich auch Günter Rudolf zur europäischen Idee. „Die Leute sehnen sich nach dauerhaftem Frieden“, zitiert der ehemalige Bürgermeister Röttingens (1974 bis 2008) am Telefon die Proklamationsurkunde des Tauberstädtchens zur Europastadt und sagt, dass seinem Eindruck nach Europa auch unter den Jugendlichen heute ein größeres Thema geworden sei: „Dies hat vielleicht auch mit der Weltpolitik zu tun, die nicht zuletzt durch Donald Trump schwieriger geworden ist.“ Vor diesem Hintergrund sei es wichtig, als starkes Europa zu handeln, insbesondere in den Bereichen wirtschaftliche Beziehungen, Außen- und Flüchtlingspolitik, so Rudolf.

Dass man sich als Kommunalpolitiker immer wieder von der Bürokratie der EU „gegängelt fühlt“, räumt Rudolfs Nachfolger, Röttingens Bürgermeister Martin Umscheid, ein. Doch während es früher in der Öffentlichkeit vor allem Kritik für ebendiese Bürokratie („Stichwort Gurkenverordnung“) gegeben habe, stehe nun das Interesse an einzelnen konkreten EU-Themen im Mittelpunkt: „Was passiert nach dem Brexit? Wie ist es um den freien Warenverkehr bestellt? Das sind Fragen, die die Menschen beschäftigen.“ Umscheid selbst sieht Europa eng verknüpft mit wirtschaftlichem Wohlstand, „gerade für Deutschland“.
Europastadt Röttingen Städte, die sich dem Gedanken der europäischen Verständigung in besonderer Weise verpflichtet fühlen, können sich den Beinamen „Europastadt“ geben. Diese inoffizielle Bezeichnung verleihen sich die Städte selbst; daneben gibt es einige Europastädte, die mit dem Europapreis des Ministerkomitees des Europarates ausgezeichnet wurden. Röttingen wurde am 30. August 1953 zur ersten Europastadt Deutschlands ernannt. Initiator war der Röttinger Elmar Düll, der in den Nachkriegsjahren als Dolmetscher in Straßburg tätig war und bei seiner Rückkehr den Europagedanken unter den Jugendlichen verbreitete. Diese überzeugten auch die damaligen Politiker, und so wurde in einer Stadtratssitzung einstimmig beschlossen, mit einer großen Demonstration für die Europäische Idee zu werben. Zur Proklamation Röttingens als Europastadt kamen Gäste aus nah und fern sowie rund 70 Medienvertreter. Sichtbare Zeichen Europas in Röttingen sind die Europaflagge vor dem Rathaus sowie der Europa-Brunnen, der das Euro-Symbol darstellt und an die Proklamation vor 66 Jahren erinnert. Die Proklamationsurkunde ist in der Tourist Information zu finden. In der Krone der Röttinger Weinprinzessin symbolisieren zudem zwölf Sterne die Gründungsstaaten Europas.