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Würzburg: Fachkräftemangel: Kann Pflege trotz Notstand funktionieren?

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Fachkräftemangel: Kann Pflege trotz Notstand funktionieren?

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    Michael Rügamer arbeitet seit 17 Jahren als Altenpfleger im Seniorenheim St. Nikolaus in Würzburg (im Bild mit Bewohnerin Christa Haub). Er pflege gerne, sagt er – trotz Notstand. 
    Michael Rügamer arbeitet seit 17 Jahren als Altenpfleger im Seniorenheim St. Nikolaus in Würzburg (im Bild mit Bewohnerin Christa Haub). Er pflege gerne, sagt er – trotz Notstand.  Foto: Thomas Obermeier

    Flink schieben die Männerhände die Wollsocken über den Knöchel. Kurz zupfen sie die blaue Hose zurecht, streichen eine Falte glatt. Nichts Besonderes. Trotzdem strahlt die 97-Jährige, schäkert verschmitzt mit Michael Rügamer über ihre "schönen Beine", freut sich über jede gemeinsame Minute. "Ich sage stolz, ich bin Altenpfleger und mache das gerne. Es gibt mir ganz viel zurück", sagt Rügamer. Der 38-Jährige hilft bei der Morgentoilette und beim Anziehen, er bringt Frühstück, Mittag- und Abendessen, er redet mit denen, die die meiste Zeit allein sind. Er ist Pflegefachkraft und Stationsleiter im Seniorenheim St. Nikolaus des Bürgerspitals in Würzburg. Er tut also das, was kaum einer mehr machen will.

    Altenpfleger Michael Rügamer sitzt im Zimmer von Gertrud Fries. Der junge Helfer sei von Anfang an ihre Bezugsperson gewesen, sagt die 97-Jährige.
    Altenpfleger Michael Rügamer sitzt im Zimmer von Gertrud Fries. Der junge Helfer sei von Anfang an ihre Bezugsperson gewesen, sagt die 97-Jährige. Foto: Thomas Obermeier

    Nach wie vor herrscht in Deutschland Pflegenotstand. Fast 40 000 Stellen sind in der Alten- und Krankenpflege unbesetzt. Vor allem an Altenpflegefachkräften mangelt es bundesweit, wie eine Analyse der Bundesagentur für Arbeit zeigt. Bis ein Heimbetreiber eine frei gewordene Stelle neu besetzen könne, dauere es inzwischen 183 Tage. Ebenfalls schwierig, wenn auch nicht ganz so dramatisch, sei die Situation bei Krankenpflegern.

    Glaubt man Experten, wird sich dieser Mangel noch verschärfen, die Zahl der pflegebedürftigen Menschen weiter steigen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) versucht seit seinem Amtsantritt mit diversen Ideen gegenzusteuern. Von 13 000 zusätzlichen Stellen über die "Konzertierte Aktion Pflege", die die Arbeitsbedingungen verbessern und den Beruf attraktiver machen soll, bis zum anvisierten einheitlichen Tariflohn oder dem Anwerben ausländischer Pflegekräfte. Der Erfolg all dieser Ansätze ist aber umstritten.

    "Wie jetzt über Lösungen geredet wird, das bringt nichts, das ist Quatsch", sagt Theodor Schiebler. "Wo soll man das Geld herbekommen? Woher die Personen?" Der 97-Jährige lebt im Ehehaltenhaus, einer Senioreneinrichtung im Würzburger Stadtteil Sanderau. Er hat Diabetes, sitzt im Rollstuhl. Seine Frau kann sich nicht um ihn kümmern, die fünf Kinder wohnen "überall in der Welt verstreut, von Luxemburg bis Kalifornien".

    Gute Pflege würde er sich ganz anders vorstellen, als derzeit in Deutschland umgesetzt, sagt Theodor Schiebler. Der ehemalige Anatomie-Professor ist 97 Jahre alt und lebt im Ehehaltenhaus in Würzburg.
    Gute Pflege würde er sich ganz anders vorstellen, als derzeit in Deutschland umgesetzt, sagt Theodor Schiebler. Der ehemalige Anatomie-Professor ist 97 Jahre alt und lebt im Ehehaltenhaus in Würzburg. Foto: Patty Varasano

    Bücher und zwei Schreibtische dominieren Schieblers Zimmer. Nach dem Aufstehen um 5 Uhr früh, "sehe ich zu, dass ich möglichst bald anfange zu schreiben", sagt der 97-Jährige und deutet auf ein silbernes MacBook. Fachvorträge für die Rotarier, Briefe an ehemalige Kollegen, Mails an seine Kinder und Enkel. Einsam fühlt sich der ehemalige Professor für Anatomie und Institutsdirektor in Würzburg nicht. Nach dem Krieg hat er sein Medizinstudium beendet, als Stipendiat an den Nobelinstituten in Stockholm gearbeitet und dann seine Unilaufbahn in Kiel und Würzburg eingeschlagen. Im Laufe seines Lebens verfasste er neun Bücher und veröffentlichte mehr als 150 wissenschaftliche Originalarbeiten. "Ich bin ein Anatom", sagt Schiebler und lacht. Falten kräuseln sich um seine Augen.

    "Ich habe natürlich Stress in meinem Beruf, aber ich nehme mir die Zeit für die Bewohner."

    Michael Rügamer, Altenpfleger in Würzburg

    Wie er sich gute Pflege vorstellen würde? Nach einem völlig anderen Modell, sagt Schiebler. Einem, das auf dem Zusammenleben von Jung und Alt basiert. In Holland beispielsweise habe er bei seinen Reisen entsprechende Wohneinheiten gesehen, für alle Generationen. "Die Idee ist, einander zu helfen und zu begegnen", sagt der 97-Jährige. "Das ist absolut super."

    Jung und Alt leben gemeinsam und helfen sich gegenseitig, so würde sich der 97-jährige Theodor Schiebler (im Bild mit Pflegerin Ornella Mugwiza) gute Pflege vorstellen.
    Jung und Alt leben gemeinsam und helfen sich gegenseitig, so würde sich der 97-jährige Theodor Schiebler (im Bild mit Pflegerin Ornella Mugwiza) gute Pflege vorstellen. Foto: Patty Varasano

    Auch in Deutschland gibt es Mehrgenerationenhäuser. Sie sollen das Prinzip der früheren Großfamilie in die moderne Gesellschaft übertragen, heißt es in den Informationen des Familienministeriums. Allerdings stehen demnach bundesweit bisher nur rund 540 solcher Häuser. Die Mehrheit der pflegebedürftigen Menschen wird entweder zuhause von Angehörigen oder in Pflegeheimen von Fachkräften betreut.

    Wie von Michael Rügamer. Der Veitshöchheimer (Lkr. Würzburg) ist seit 17 Jahren Altenpfleger. "Meine Mutter war krank und ich habe schon als Kind gesehen, wie mein Vater sich um sie gekümmert hat – das fand ich bewundernswert", sagt der 38-Jährige. Er begann seine Ausbildung, erlebte in einem Praktikum "seinen Schlüsselmoment", als er eine alte Dame aus Versehen verletzte und sie ihm wortlos über den Kopf strich. Die schlichte Dankbarkeit rührte ihn.

    Rügamer sitzt im Aufenthaltsraum im dritten Stock des St. Nikolaus Heimes. Gut 20 Pflegekräfte sind für die etwa 36 Bewohner seiner Station zuständig. Alle Pflegegrade seien bei ihnen vertreten, Menschen mit Demenz, die schon mal laut rufend durch die Gänge laufen. Andere, die fröhlich mit den Pflegern plaudern, nach Rügamers Familie fragen oder von den eigenen Kindern und Enkeln erzählen. "Ich habe natürlich Stress in meinem Beruf, aber ich nehme mir die Zeit für die Bewohner", sagt der 38-Jährige. Auch wenn das ab und an Überstunden bedeutet. "Ich denke, jeder, der mit Herz dabei ist, nimmt sich die Zeit."

    Der Pfleger wirkt wie ein Paradebeispiel für die schönen Seiten seines Berufs. Er sei zufrieden mit seiner Bezahlung, mit den Arbeitsbedingungen, der Personalausstattung auf seinen Stationen. Aber er weiß auch: Nicht überall ist der Job so.

    Eine Frau trug während einer Kundgebung zum "Tag der Arbeit" 2018 ein Schild mit der Aufschrift "Pflege ist Gold wert!" in den Händen. Noch wird allerdings nur rund ein Fünftel der Altenpfleger nach Tarif bezahlt. 
    Eine Frau trug während einer Kundgebung zum "Tag der Arbeit" 2018 ein Schild mit der Aufschrift "Pflege ist Gold wert!" in den Händen. Noch wird allerdings nur rund ein Fünftel der Altenpfleger nach Tarif bezahlt.  Foto: Peter Steffen, dpa

    In vielen Pflegeinrichtungen in Deutschland sind Fachkräfte nach wie vor knapp. Gründe gibt es dafür nach Angaben des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK) zahlreiche. Hohe Arbeitsverdichtung etwa, geringe Aufstiegs- und Karrierechancen, schlechte Bezahlung. So arbeiten in der Altenpflege bisher nur rund 20 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Tarifvertrag. Geht es nach der Bundesregierung, soll sich das ändern: Ziel ist es, dass möglichst in der gesamten Pflegebranche künftig Tariflöhne gezahlt werden. Gleichzeitig soll der Beruf für junge Menschen wieder attraktiver gemacht werden.

    "Dies sind allseits bekannte Themen, seit Jahren. Bewegt hat sich gar nichts."

    Eine Würzburger Pflegefachkraft, die seit vier Jahrzehnten in der Pflege arbeitet

    "Dies sind allseits bekannte Themen, seit Jahren", sagt eine Pflegefachkraft, die seit vier Jahrzehnten in der Pflege in Würzburg und im Raum Würzburg tätig ist. "Bewegt hat sich gar nichts." Vor allem, weil ihrer Branche die Lobby fehle. Und weil ein falsches Klischee den Beruf negativ darstelle: Es dominiere das Bild, Pfleger seien dazu da, anderen den Hintern abzuwischen – "aber das ist nicht die Altenpflege". Junge Nachwuchskräfte würden dadurch jedoch abgeschreckt, genauso wie durch den stetig steigenden bürokratischen Aufwand. Aus ihrer Sicht kommt zu all den strukturellen Problemen ein gesellschaftliches dazu. "Mit Sterben und Tod können wir nicht mehr umgehen", sagt die Frau, die anonym bleiben möchte. Schwäche und Alter seien heute ein Tabu, früher habe es in den Großfamilien dazu gehört.

    Ähnlich sieht das Theodor Schiebler. Auch er plädiert dafür, mehr aufeinander zuzugehen. Den Austausch zu suchen. Mit anderen Generationen. Aber auch zwischen den Leitern der Pflegeinrichtungen und den Bewohnern. "Ich würde sehr empfehlen, dass gerade die Leitenden in so einem Komplex bei den Patienten Besuche machen, mit ihnen sprechen und sich die Ideen erzählen lassen", sagt der 97-Jährige. "Überwindung der Scheuklappen ist der Schlüssel gegen den Notstand in der Pflege."

    Für Michael Rügamer ist das selbstverständlich. Die Offenheit gegenüber anderen Menschen. Das echte Zuhören. Das Interesse für die zu Pflegenden. "Ich habe leider keine Großeltern mehr und so verliert man ja den Kontakt zu den alten Menschen", sagt der 38-Jährige. Auf seinen Stationen findet er Ersatz. Plaudert mit der 97-jährigen Dame über seine Hochzeit vor wenigen Wochen. Versucht, einsame Weihnachten oder Muttertage abzufedern. Warum? "Ich gebe nicht nur viel, ich kriege auch viel von den Bewohnern zurück." Natürlich gibt es auch die schweren Tage, an denen "ich hadere oder es belastet". Es liege aber an einem selbst, wie man damit umgehe, sagt Rügamer. "Wichtig ist, dass wir uns als Pflegekräfte nicht klein machen." 

    Fakten und Zahlen zur Pflegesituation Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren Ende 2017 insgesamt 3,4 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig, die Mehrheit davon Frauen. Gut drei Viertel der Bedürftigen wurden zu Hause versorgt – 1,7 Millionen davon allein durch Angehörige, rund 830 000 zusammen mit oder vollständig durch ambulante Pflegedienste. Etwa ein Viertel der Pflegebedürftigen wurden in Pflegeheimen vollstationär betreut. Im Vergleich zu 2003 ist die Anzahl der in Heimen vollstationär versorgten Menschen demnach um gut ein Drittel gestiegen, bei den durch ambulante Pflegedienste versorgten sogar um rund 84 Prozent. Bundesweit gab es im Dezember 2017 rund 14 500 voll- oder teilstationäre Pflegeheime. Die meisten standen unter freigemeinnütziger  Trägerschaft (beispielsweise der Diakonie oder der Caritas), etwa 43 Prozent hatten private Träger. Im Schnitt betreute eine Einrichtung 64 Pflegebedürftige. Insgesamt 765 000 Personen waren laut Bundesamt in allen Pflegeeinrichtungen beschäftigt, die Mehrzahl davon weiblich. (sp)

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