Im Münchner Missbrauchsgutachten wurde nicht nur die Amtszeit von Joseph Ratzinger - dem mittlerweile emeritierten Papst Benedikt XVI. - untersucht. Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) hat sich auch Fälle in der Amtszeit von zwei aus Unterfranken stammenden Erzbischöfen von München-Freising genauer angesehen. Gemeint sind die Kardinäle Michael von Faulhaber und Julius Döpfner.
Faulhaber wurde 1869 in Heidenfeld bei Schweinfurt geboren, als "Sohn eines Bäckers und Landwirts" informiert das Erzbistum auf seiner Internetseite. Döpfner kam 1913 in Hausen bei Bad Kissingen auf die Welt. Beide gelten als markante und die Kirchenlandschaft prägende Persönlichkeiten. Ihr Andenken wird in der Region in Ehren gehalten. Unter anderem in Würzburg sind zwei zentrale Plätze nach den bekannten Kirchenmännern benannt. Doch nun werden sie auch wegen ihres "fehlerhaften Handelns" in Bezug auf den Umgang mit Missbrauchstätern und Missbrauchsbetroffenen in Erinnerung bleiben. Diesen Vorwurf erheben die Münchner Gutachter bei Faulhaber in vier von 15 untersuchten Fällen, bei Döpfner in 14 von 35 Fällen.

Dass auch die unterfränkischen Geistlichen in den Fokus der Studie rückten, liegt am festgelegten Untersuchungszeitraum. Die Kanzlei WSW hat den sexuellen Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete von 1945 bis 2019 analysiert: die Verantwortlichkeiten, systemischen Ursachen, Konsequenzen. Somit wurden ab 1945 die letzten siebeneinhalb Amtsjahre Faulhabers in den Blick genommen. Insgesamt war er von 1917 bis zu seinem Tod am 12. Juni 1952 Erzbischof von München-Freising.
Es gibt sogar einen Fall während der Amtszeit Faulhabers, der bis in die Amtszeit Julius Döpfners als Erzbischof (von 1961 bis 1976) die Bistumsverantwortlichen beschäftigt hatte. Der "Fall 6" taucht auch später noch in den Akten auf.
"Fall 6" im Münchner Missbrauchsgutachten betrifft Faulhabers und Döpfners Amtszeit
Kurz zusammengefasst: Laut dem WSW-Gutachten betrifft "Fall 6" einen Priester, der bereits Mitte der 1940er Jahre durch sexuelle Handlungen mit Ministranten auffiel. Weiterhin ist dort zu lesen, dass diese "zwar eine Versetzung innerhalb der Erzdiözese, aber sonst keine straf- oder kirchenrechtlichen Konsequenzen zur Folge hatten". Anfang der 1950er Jahre – also in der Amtszeit Faulhabers - wurde der Priester laut Gutachten aufgrund "mehrerer sexueller Handlungen an Kindern und Jugendlichen" zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Gutachter werfen Faulhaber unter anderem vor, dass er die vom Kirchenrecht geforderte Mitteilung der Vorfälle an die Heilige Kongregation des Heiligen Offiziums - die spätere Glaubenskongregation - nicht durchgeführt hat. Ebenso habe es keine Hilfsangebote für die Geschädigten gegeben.
Nach seiner Entlassung aus der Haft wurde der verurteilte Priester unter Faulhabers Nachfolger, Erzbischof Joseph Kardinal Wendel (1952 bis 1960), wieder als Seelsorger eingesetzt – in Altenheimen und aushilfsweise in einer Gemeinde.
Keine staatlichen Ermittlungen und kirchenrechtlichen Maßnahmen bei Missbrauchsfällen
Weiterhin gab es Verdachtsfälle und konkrete Beschuldigungen gegen den Priester. Etwa Anfang der 1970er Jahre, also Jahre nach dessen Verurteilung. Sie fallen in die Amtszeit Julius Döpfners. Der Erzbischof ist laut Gutachten von seinem Generalvikar Gerhard Gruber in einer vertraulichen Note darüber informiert gewesen. Angedacht sei gewesen, den Priester fortan aushilfsweise in der Seelsorge zu beschäftigen. Der Vater des missbrauchten Ministranten sei damit jedoch nicht einverstanden gewesen. Der Priester wurde versetzt. Staatliche Ermittlungen und kirchenrechtliche Maßnahmen wurden dieses Mal nicht ergriffen.

Insgesamt wird – nicht nur unter Faulhaber und Döpfner und bei dem exemplarisch beschriebenen "Fall 6" - deutlich, dass die Fürsorge beziehungsweise der Schutz der Täter sowie der Institution Kirche bei den Verantwortlichen an erster Stelle stand. Die Frage, wie es den Kindern und Jugendlichen geht, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, und ob sie Hilfe brauchen, stellten sie sich nicht. Die gutachterliche Bewertung klingt in vielen Fällen immer gleich: Nach Aktenlage seien keinerlei Aktivitäten mit Blickrichtung auf die möglichst umfassende Betreuung, insbesondere der den Erzbischöfen und Generalvikaren namentlich bekannten Geschädigten, erkennbar gewesen.
Münchner Offizial Lorenz Wolf und der Missbrauchsvorwurf von Alexandra W.
Eine weitere Person, deren Verhalten im WSW-Gutachten näher betrachtet wird, ist der Münchner Offizial Lorenz Wolf. Auch bei ihm gibt es einen unterfränkischer Bezug: zu einem Missbrauchsvorwurf im Bistum Würzburg. Wobei dieser Vorwurf nicht im WSW-Gutachten behandelt wird.
Alexandra W. beschuldigt seit 2013 einen hochrangigen Geistlichen, sie 1988 im Exerzitienhaus Himmelspforten in Würzburg vergewaltigt zu haben. Zu diesem Fall hat Wolf auf Wunsch des Würzburger Generalvikars Karl Hillenbrand die kirchenrechtliche Voruntersuchung durchgeführt. Wolf, der im Münchner Gutachten als ein Mann mit großer Machtfülle beschrieben wird, schloss die Wahrscheinlichkeit, dass die behauptete Straftat begangen wurde, nahezu aus.
Der damalige unabhängige Ansprechpartner für Opfer sexuellen Missbrauchs, der Kriminologe Professor Klaus Laubenthal, hat den Vorwurf hingegen für plausibel erklärt. Bischof Friedhelm Hofmann ist ihm nicht gefolgt. Bis heute ist der Fall weder restlos geklärt noch umfassend aufgearbeitet. Alexandra W. hat das Gutachten gelesen und bestätigt, dass sich ihre Eltern, die von Wolf befragt wurden, von ihm stark unter Druck gesetzt fühlten.