Es ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Würzburger Universitätsklinik – und es hat lange gedauert, bis sich man sich dort der eigenen Vergangenheit stellte. Zu lange, so der übereinstimmende Tenor bei der Eröffnung der Ausstellung „erfasst. verfolgt. vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“ am Dienstagabend im Lichthof der Neuen Universität.
Ausstellung läuft seit über drei Jahren
Es ist die 32. Station der Ausstellung seit Januar 2014. Konzipiert wurde sie von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Die Ausstellung erzählt die Geschichte von Ausgrenzung, Zwangssterilisatioen und Massenmord – sowie die Auseinandersetzung mit dem Geschehen seit 1945.
Bis zu 400 000 Menschen wurden auf Grundlage der NS-Rassenideologie ab 1934 gegen ihren Willen sterilisiert, europaweit etwa 300 000 kranke und behinderte Menschen ermordet.

Werner Heyde war einer der Haupttäter
Einer der Haupttäter war der Würzburger Arzt Werner Heyde, ausgebildet an der hiesigen Klinik für Psychiatrie und Nervenheilkunde. Ab Sommer 1939 war Heyde zunächst alleiniger Obergutachter für die zur Tötung ausgewählten Patienten und wurde 1940 medizinischer Leiter der so genannten „Aktion T4“. Von Ende 1939 bis 1945 war er Direktor der damaligen Universitätsnervenklinik Würzburg.
Verbrechen lange tabuisiert
Die Ausstellung hier zu zeigen, hat daher einen besonderen historischen Bezug. Über Heydes Rolle sowie die Situation in Würzburg und Umgebung informieren ergänzende Ausstellungstafeln. Sie entstanden in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte der Medizin der Uni Würzburg.
Prof. Jürgen Deckert, der heutige Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Würzburger Uniklinik, bedauerte bei der Eröffnung, dass das Thema der Krankenmorde gesellschaftlich viel zu lange tabuisiert wurde.
Seit seiner Rückkehr 2006 habe er in Würzburg aber eine große Offenheit zur Aufarbeitung festgestellt. Deckert erinnerte an erste Veranstaltungen der Uniklinik vor rund zehn Jahren, als der Arbeitskreis Stolpersteine wichtige Anstöße gegeben hatte.
Prof. Jürgen Deckert: „Wehret den Anfängen“
Warum die Ausstellung so wichtig sei? „Weil nie wieder ein Menschenbild aufkommen darf, das diese Verbrechen ermöglicht hat. Es gilt gemeinsam den Anfängen zu wehren“, so Deckert.
Auch Uni-Präsident Alfred Forchel fand kritische Worte: „Die massenhafte Vernichtung wäre nicht möglich gewesen, hätten nicht so viele mitgemacht.“ Auch Angehörige der Würzburger Universität seien daran beteiligt gewesen. „Es ist zu viel Zeit verstrichen, bis sich auch die Julius-Maximilians-Universität der historischen Aufarbeitung gestellt hat.“
Forchel verwies auf die Stele, die seit 2014 an die Würzburger Euthanasie-Opfer erinnert, auch an die Benennung des Platzes vor der psychiatrischen Klinik nach dem Opfer Margarete Höppel. „Aber weitere Schritte müssen folgen“, forderte Forchel. Die Ausstellung gebe den Opfern ihre Namen zurück und lasse Angehörige zu Wort kommen.
Bürgermeisterin: Es geht um „Würde des Individuums“
Für die Stadt Würzburg sprach Bürgermeisterin Marion Schäfer-Blake von „Trauer und Scham“ bei dem, was Menschen angetan wurde. Es sei bestürzend, dass sich auch Ärzte in den Dienst des verbrecherischen NS-Systems gestellt hätten.
Bei der Ausstellung gehe es aber nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um aktuelle Fragen – „die Würde des Individuums und den Wert des menschlichen Lebens“. Unter dem Beifall der Gäste sagte Schäfer-Blake: „Auch sind wir in der Gefahr, das Recht auf Leben von Kosten- und Nützlichkeitserwägungen abhängig zu machen. Ein Beispiel ist der Rechtfertigungsdruck, dem Eltern ausgesetzt sind, die sich bewusst für ein behindertes Kind entscheiden.“
Für die DGPPN berichtete dessen ehemaliger Präsident Prof. Frank Schneider über die Entstehung der Ausstellung unter Schirmherrschaft des früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck. Zentral für Schneider, Klinikdirektor in Aachen: „Über die Würde des Menschen ist nicht zu diskutieren.“
Prof. Krupinski: Heyde diente sich dem NS-Regime an
Einblicke in das Leben und das verbrecherische Wirken von Werner Heyde gab in einem Vortrag Prof. Martin Krupinski, Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Würzburger Uniklinik. Krupinski zeigte auf, wie sich Heyde dem NS-Regime andiente.
So stellte er unter dem Einfluss Heinrich Himmlers bereits 1933 ein positives Gutachten über den der Klinik zugewiesenen Theodor Eicke aus – er wurde kurze Zeit später Kommandeur des Konzentrationslagers Dachau.
1934/35 musste sich der spätere Familienvater Heyde wegen angeblicher homosexueller Neigungen und eines bezeugten Vorfalls vor der Gestapo rechtfertigen, kurz darauf trat er als Hauptsturmführer in die SS ein. Heyde konnte nach dem Krieg fliehen und bis 1959 als „Dr. Fritz Sawade“ in Schleswig-Holstein praktizieren. Wenige Tage vor seinem Prozess 1964 erhängte er sich in seiner Zelle.
Opfer und Täter „begegnen“ sich in der Ausstellung
In der Ausstellung im ersten Stock der Neuen Uni schauen Täter und Opfer einander auf gegenüberstehenden Tafeln an. Diese Konfrontation trägt durch die ganze Schau von Fotos, Dokumenten und erläuternden Texten. So lösen die Ausstellungsmacher auf, was das – „Aktion T4“ oder „Euthanasie“ genannte – Mordprogramm der Nazis bis heute begleitet: das verschämte Schweigen von Angehörigen der Opfer und das Verschweigen und Verbergen der Taten und Täter.
Die Ausstellung besteht aus fünf Abteilungen: „Fotoalbum“, „Die Frage nach dem Wert des Lebens“, „Rassenhygienische Politik“, „Mord“ und „Nach 1945: Verdrängen und Erinnern“.
Die Ausstellungsmacher stellen die Geschichte einer Idee vor, die bis heute virulent ist unter Neonazis und in den Reihen der sogenannten Neuen Rechten: dass die Fortpflanzung gesteuert werden müsse, um den erbbiologischen Niedergang einer Nation aufzuhalten.
Rassenideologie als Grundlage für das Morden
Die Nazis verknüpften die Vorstellung, ein starker, gesunder Mensch sei mehr wert als ein schwacher und kranker mit der Idee, es gebe verschiedene menschliche Rassen. Die rassistische Politik mit dem Ziel der „Rassenhygiene“ war ein zentrales Element der NS-Ideologie.
Erschütternd ist die Abteilung „Mord“. Zu sehen ist, wie penibel die Nazis ihre Massaker mit Gift, Gas und Hungertod organisierten und wie ausgefuchst ihr System des Irreführens und Vertuschens war. Zu sehen ist auch, wie Opfer sich wehrten. Der Satz einer Theresa S. steht zitiert, gesagt im Rahmen ihres „Erbgesundheitsverfahrens“: „Ich lege Ihnen also klar, dass ich nicht schwachsinnig, sondern bloß arm bin, nicht erblich belastet mit keiner Krankheit, sondern bloß gedrückt und schikaniert […]. Wäre es nicht besser, wenn armer Leute Kind sofort ertränkt würde?“
Die ganze Ausstellung durchziehen Zitate von Kälte, Rohheit, Verzweiflung, Angst.
Täter machten wieder Karriere
Die letzte Abteilung fordert das Publikum noch einmal heraus. Zu sehen ist, wie prächtig manche Täter nach dem Krieg gediehen, ihre Karrieren als Klinikleiter fortsetzten und geachtete Mitglieder der Gesellschaft blieben. Auf der anderen Seite stehen ihre Opfer und deren Angehörige. Bis heute fallen Zwangssterilisierte und Angehörige von „Euthanasie“-Opfern nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz.
Nach dessen Definition sind NS-Verfolgte Menschen, die wegen ihrer politischen Meinung, ihrer „Rasse“, ihrer Weltanschauung oder ihrer Religion verfolgt wurden. Zwangssterilisierte und Überlebende der Mordanstalten zählen nicht dazu. Erst seit den 1980er-Jahren können Zwangssterilisierte Einmalzahlungen und unter bestimmten Bedingungen auch laufende Beihilfen erhalten.
Euthanasie-Gedanke weit in der Bevölkerung verbreitet
Die Ausstellung gibt einen ausreichenden Überblick. Bild- und dokumentenreicher, auch erschreckender ist der dazugehörige Katalog. Tief war der „Euthanasie“-Gedanke in der Bevölkerung verwurzelt.
Zu lesen ist dort (wie in der Ausstellung) auch der Brief eines dreifachen Vaters an eine Heil- und Pflegeanstalt, sein behindertes Kind betreffend: „Man würde doch nur Gutes tuen“, schrieb Bruno O. 1943, wenn man seinem Kind, „die Gnadenspritze verabreichen würde“.
„Unnütz hinausgeworfen“ sei das Geld für dieses Kind, er wolle es seinen „beiden kerngesunden Jungens zu Gute kommen lassen“. Die Wissenschaft müsse „so weit fortgeschritten sein, um Platz für Gesunde zu schaffen“.
Die Anstalt will das Kind nicht aufgeben. Der Vater setzt durch, dass es ermordet wird.
Information und Begleitprogramm zur Ausstellung
Die Ausstellung ist bis 18. August im ersten Stock der Neuen Uni, Sanderring 23, zu sehen, montags bis freitags von 10 bis 19 Uhr, samstags von 10 bis 17 Uhr. Angebot für Schulen: Studenten der FHWS bieten unter Leitung von Prof. Tanja Henking für Schülergruppen und Studierende Führungen durch die Ausstellung an. Info und Terminvereinbarung unter ausstellung@fhws.de und Tel. (0931) 35 11 84 63. Zum Begleitprogramm gehört eine Veranstaltung am Samstag, 15. Juli, von 10 bis 14 Uhr in der Neuen Uni. Zu hören sind Vorträge über Krankenmorde, Zwangssterilisation und Zwangsarbeit in Würzburg und Umgebung. Das Programmkino Central zeigt drei Filme zum Thema (jeweils 20.30 Uhr, mit Einführung): • am 26. Juni „Wirklichkeit und Propaganda zur Anstaltspsychiatrie in Filmen der 1930er Jahre“ • am 10.Juli: „,Lebensunwert‘ – Paul Brune, NS-Psychiatrie und ihre Folgen“ • am 17. Juli: „Die Affäre Heyde-Sawade“ Der Katalog „erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“, erschienen im Verlag Springer Medizin, 224 Seiten dick, ist für 19,99 Euro im Buchhandel zu erwerben und am Infostand neben der Ausstellung. Zudem gibt es ein Begleitheft in Leichter Sprache unter dem Titel „Menschen mit Behinderungen oder mit Nerven-Krankheiten in der Nazi-Zeit.