Da steht sie: die personifizierte kollektive Schuld. In der Ecke eines Nebeneingangs vom Exerzitienhaus Himmelspforten in Würzburg. Ganz in schwarz gehüllt. Die weißblonden Haare zum strengen Pferdeschwanz gebunden. Sie taxiert die Anwesenden mit kühlem Blick. Alle blicken stumm und seltsam ergriffen zurück.
Dann beginnt sie, sich zu bewegen. Sie windet fließend Arme, Beine und Kopf um ihre Körpermitte in groteske Stellungen und spricht abgehackt, skandierend: "Wir wissen es. Es ist passiert." Begleitet und intensiviert von düsteren Geigenfragmenten der Violinistin. Immer und immer wieder.
Wer das "Freispiel" konzipiert hat
Ton, Text und Tanz treffen alle mitten ins kollektive Gedächtnis – gerade in der aktuellen politischen Lage. Haben wir wieder "Antworten auf Fragen, die nicht gestellt werden"? Kommt das Unheil erneut über uns? Machen wir uns gerade schuldig?
Willkommen beim Mozartfest und "Freispiel: Nimmer noch" zu einem Wander-Konzert durch Raum und Seele mit Musik, Tanz und Literatur. Konzipiert von den Mozartlabor-Stipendiatinnen 2023 Daniela Kiesewetter, Friedericke Sengteller, Milena Steinhauer, Rahel Weiler und Sarah Luisa Wurmer unter Federführung von Hanni Liang. Die Künstlerin entwickelt neue Konzertformate und ist "der festen Überzeugung, dass Kunst und Kultur ein menschlicheres Miteinander und eine nachhaltige Gesellschaft fördern können".
Publikum wurde in vier Gruppen aufgeteilt
Die Konzertbesucher werden anfangs aufgeteilt. Sie erhalten eine von vier bunten Karten, die sie einer von vier Gruppen zuweist: der bewussten Schuld mit dem Text "Du weißt, ich bin hier – bin hier bei dir", der unbewussten Schuld "Seht ihr dort einen großen Elefanten?", der kollektiven Schuld "Wir wissen es. Es ist passiert" und der aufgetragenen Schuld "Nicht stehen bleiben! Weitergehen!".
Hanni Liang bereitete das junge, intensiv muszierende Streicher-Quartett HANA auf die Zusammenarbeit mit dem "kollektiv anderer tanz" vor, das von Thomas K. Kopp, Leiter der "Theaterhalle am Dom", choreografiert wurde.
Ein Glück, dass er die Tänzerinnen der zuletzt sehr erfolgreichen Produktion "Seven lives - none left" wieder verpflichten konnte. Die Tänzerinnen Lilly Bendl, Sophie Charlotte Becker, Yana Madriyani und Sonja Golubkowa verkörpern jeweils eine Schuld-Form. Auf vier Spielstätten im weitläufigen Himmelspforten-Gelände verteilen sie sich mit je einem Musiker aus dem HANA-Quartett mit Gyurim Kwak (Violine), Fuga Miwatashi (Violine), Simon Rosier (Viola) und Tzu-Shao Chao (Violoncello).
Vogelgezwitscher und betörend duftende Linden
Minutiös aufeinander abgestimmt vereinen die vier Tänzerinnen und Musiker nach der Anfangs-Sequenz das aufgeteilte Publikum ineinander. Führen es durch das wunderschöne Klostergelände in den malerischen Innenhof des ehrwürdigen Kreuzgangs. Jetzt betört der Duft der blühenden Linden wieder, das Vogelgezwitscher-Konzert beginnt erneut, bevor es wieder verstummt, weil das HANA Quartett mit Beethovens Streichquartett Nr. 15 a-Moll op. 132 alle bannt.
Beethoven komponierte es zwei Jahre vor seinem Tod. Viel Leben, viel Leid, viel Schuld, viel Freude, viel Tiefe birgt dieses Werk. Eindringlich verstärken die vier Tänzerinnen die intensiven Stimmungen. Ja, sie können – mit ihren scheinbar jeglicher Schwerkraft trotzenden Körper und vier schwarzen Stühlen als variablen Tanzrequisiten – nur durch Bewegungen Leid, Ohnmacht oder Freude darstellen. Sie tanzen ausnahmslos hin- und mitreißend und verlassen die Spielstätte nach den ersten beiden Sätzen.
Nun liegt der volle Fokus auf der Musik. Überirdisch schön gelingt der Mittelsatz (Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in der lydischen Tonart). Energisch, schroff, aufreibend die beiden letzten Sätze. Aufgewühlt, viel Beifall spendend bleibt das Publikum zurück.