"Jeder Ort, an dem wir nicht sein wollen, ist ein Gefängnis." Dieser Satz stammt von Ajahn Brahm, einem der bedeutendsten buddhistischen Lehrer dieser Tage. Natürlich passt er besonders gut in diese Zeit der Ausgangsbeschränkungen, aber wie alle Sätze von Ajahn Brahm ist auch dieser von weit tieferer, zeitloser Weisheit. Denn wir haben uns lange vor Corona in einem System von Gefängnissen unterschiedlichster Arten verheddert. Anders gesagt: Das Gefängnis ist für uns längst System.
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Weil wir im Grunde immer woanders sein wollen als an dem Ort oder an dem Zeitpunkt, an dem wir gerade sind. Nur ein Beispiel: Montags betrauern wir in den sozialen Netzwerken möglichst humorvoll das Ende des Wochenendes, mittwochs feiern wir virtuelle Bergfeste, und freitags bejubeln wir das Ende der Arbeitswoche. Das mag verständlich sein, wenn Menschen Jobs haben, die ihnen keinerlei Befriedigung geschweige denn Erfüllung bringen. Es drängt sich aber der Eindruck auf, dass es um etwas anderes geht: Es scheint, als habe die Gegenwart, als habe der Moment als solcher nur eine Art Durchgangsfunktion. An jedem Tag, in jedem Lebensalter.
Warum reden wir eigentlich so gerne über unsere Urlaubspläne?
Als Kinder wollen wir möglichst schnell erwachsen werden, damit wir all die Dinge tun können, die nur Erwachsene dürfen. Aufbleiben, so lange man will. Die Wurst ohne Brot essen. Einfach so ans Meer fahren und am Strand liegen. Aber wenn wir dann erwachsen sind (zumindest dem Alter nach), stellen wir fest, dass es so einfach nicht ist. Dass nach den Gefängnissen der Kindheit neue Gefängnisse warten. Es muss eine Existenz aufgebaut werden, wie man so sagt. Es muss eine Familie gegründet, ein Haus gebaut, eine Karriere gemacht werden.
Natürlich gibt es viele Wege dorthin und viele Varianten, wie eine solche Existenz aussehen könnte. Wo uns das Kindsein mehr oder weniger natürliche Grenzen vorgegeben hatte, haben wir als Erwachsene theoretisch vollkommene Entscheidungsfreiheit – anders als in früheren Jahrhunderten, als Geschlecht, Herkunft oder Zünfte bestimmten, was eine(r) werden durfte. Wir sind stolz darauf, eine Gesellschaft der Mobilität zu sein, und zwar der horizontalen (warum sonst reden wir so gerne über Urlaubspläne) und der vertikalen Mobilität.
Eines allerdings muss klar sein: Es kann nur in eine Richtung gehen – höher, schneller, weiter. Wachstum als ökonomisches und psychologisches Naturgesetz ist nicht verhandelbar. Alles hängt mit allem zusammen, sobald irgendwo ein Rädchen klemmt, droht sehr schnell der ganze Motor ins Stocken zu geraten oder heißzulaufen. Stillstand ist grundsätzlich gefährlich, Innehalten nur dann zulässig, wenn es danach mit neuer Kraft und neuem Elan weitergeht. Und man muss kein Aussteiger sein, um zu bemerken, wie sehr in den allgegenwärtigen Aufrufen zur Achtsamkeit letztlich die Aufforderung zur Selbstoptimierung mitschwingt.
Corona ist das Virus, das die Welt zum Innehalten zwingt
Und nun also Corona. Das Virus, das die Welt zum Innehalten zwingt. Abgesehen von der gigantischen medizinischen und wirtschaftlichen Herausforderung für den ganzen Planeten: Sind wir als Individuen überhaupt zum Innehalten fähig und bereit? Wenn wir uns an langen Arbeitstagen im Büro auf unser Sofa daheim sehnten, hatten wir dabei sicher nicht im Sinn, dass dieses Sofa eines Tages zu einem weiteren Gefängnis werden könnte.
Denn auch dieser Effekt ist zu beobachten: Sobald wir auf dem Sofa bleiben sollen und nicht dürfen, werden wir misstrauisch. Wer schreibt uns mit welchem Recht vor, wo wir zu bleiben haben? In einer Gesellschaft, die systemisch davon lebt, dass alle immer woanders sein wollen als da, wo sie gerade sind, ist eine behördliche Beschränkung dieser Art eine Unverschämtheit. Wie sehr, das hat sich in der ungeheuren medialen Mühe gezeigt, die es kostete, den Menschen zu erklären, wie wichtig das Zuhausebleiben möglichst vieler ist. Für sie selbst, aber eben auch für andere, ältere, schwächere.
Es ist ein ungeheurer Luxus, wenn wir uns dieses Innehalten überhaupt leisten können
Um auch das ganz klar zu sagen: Es ist ein ungeheurer Luxus, wenn wir uns dieses Innehalten überhaupt leisten können. Wenn wir währenddessen unseren Job behalten, wenn wir genügend Wohnraum haben, um nicht durchzudrehen, wenn wir Zugang zu sauberem Wasser haben, wenn wir Sicherheitsabstände einhalten können. Für viele gilt das nicht, umso zynischer wirkt das mehr oder weniger öffentliche Hadern derer, denen es im Grunde gar nicht schlecht geht.
Aber wie gesagt: Unser ganzes System sieht keinen Stillstand vor. Vielleicht also ist das Hadern eine Reaktion, die sich aus tieferen Quellen speist als aus der des Egoismus. Vielleicht sind wir schon Wesen geworden wie die Haifische, bei denen manche Arten nur überleben können, wenn sie in Bewegung bleiben. Wir brauchen das Gefühl, unterwegs zu sein, auf dem Weg irgendwo hin. Wo wir gebraucht werden, wo wir etwas ausrichten können, wo wir bestätigt bekommen, dass unsere Existenz nicht nutzlos ist.
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Nun müssen wir plötzlich – zumindest vorübergehend – diese Bestätigung in uns selbst finden. Und das ist gar nicht so einfach, wie sich zeigt. Das könnte neben all dem Leid und all dem Schaden, den das Virus anrichtet, vielleicht die Chance von Corona sein: Dass wir lernen, andere und vor allem uns selbst nicht mehr an Vermögen oder Erfolg zu messen. Dass wir uns gar nicht mehr messen. Wenn dies gelänge, bedeutete es nichts weniger als ein Leben ohne Gefängnisse – Ausgangsbeschränkungen hin oder her.