Er habe dort meist nur Flöte gespielt, sagte Georg Renno in den 1960er Jahren bei seiner Vernehmung in Frankfurt am Main. Daran erinnerte sich der stellvertretende ärztliche Leiter der NS-Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz noch genau. Nebulös wurden seine Aussagen immer dann, wenn es um seine eigentliche Funktion ging: um die Vernichtung von kranken Menschen.
Georg Renno war einer der Ärzte, die während der NS-Zeit Patienten nicht heilten, sondern töteten. Er war aktiv an der NS-„Euthanasie“-Aktion T4 beteiligt. Die Bezeichnung leitet sich von der Adresse der Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin ab. Sie steht für die systematische Ermordung von über 70 000 Menschen zwischen 1940 und 1941. Adolf Hitler wies in einem Schreiben an, das auf den 1. September 1939 zurückdatiert wurde, dass unheilbar Kranken „der Gnadentod“ gewährt werden könne. Die Tarnorganisation in der Tiergartenstraße war für die Durchführung verantwortlich.
Es gab sechs Tötungsanstalten: in Brandenburg, Bernburg, Pirna, Hadamar, Grafeneck – und in der „Ostmark“, in Hartheim. Da es dort nur dem ärztlichen Personal erlaubt war, den Gashahn zu öffnen, dürfte sich Georg Renno, der 1997 im Alter von 90 Jahren ohne jegliches Schuldbewusstsein gestorben ist, wohl kaum nur dem Flötenspiel gewidmet haben. Einer von beiden, Renno oder sein Vorgesetzter Rudolf Lonauer, der leitende NS-„Euthanasie“-Arzt in Hartheim, war wohl auch aktiv an der Ermordung des Würzburgers Georg Häberlein beteiligt. Womöglich beobachtete derjenige sogar durch ein kleines Fenster in der Türe, wie die Opfer starben. Letztlich töteten Renno oder Lonauer den Würzburger, weil ein anderer Würzburger es so mitentschieden hatte: Werner Heyde war an führender Stelle ins NS-„Euthanasie“-Programm involviert.
Förderlich für die NS-Karriere des Psychiaters war sein Gutachten für den späteren Chef aller Konzentrationslager: Theodor Eicke. Heyde bescheinigte ihm in der Psychiatrischen Nervenklinik der Würzburger Universität psychische Gesundheit. Fortan ging es für ihn steil bergauf. Er wurde Leiter des Rassepolitischen Amtes in Würzburg und Beisitzer im Erbgesundheitsgericht, wo er über Zwangssterilisationen entschied. Im Juni 1936 begann seine Laufbahn in der SS als „Leiter der psychiatrischen Abteilung beim Führer der SS-Totenkopfverbände/Konzentrationslager“. 1939 wurde er Direktor der Psychiatrischen Nervenklinik in Würzburg, kurz darauf Medizinischer Leiter der Aktion T4. Bis 1941 schickte Heyde als Obergutachter Menschen in den „schönen Tod“ – so die Bedeutung des Begriffs „Euthanasie“.
Der Ablauf des Vernichtungssystems machte es den gezielt unter der Ärzteschaft ausgewählten 40 Gutachtern und zwei Obergutachtern einfach. Sie mussten ihren Opfern nicht in die Augen schauen, sondern fällten ihre Urteile aufgrund von Meldebögen, die ab Oktober 1939 von Heil- und Pflegeanstalten eingefordert wurden. Entscheidend waren die Bewertungen der Gutachter auf den Bögen: Ein rotes Pluszeichen bedeutete Tod, ein blaues Minus Leben. Hatten die Gutachter Zweifel, setzten sie ein Fragezeichen. Die Obergutachter übernahmen dann den letzten Schritt.
Werner Heyde war sich – wie Georg Renno – bis zu seinem Suizid am 13. Februar 1964 im Gefängnis keiner Schuld bewusst. Er lebte bis 1959 unbehelligt als „Dr. Fritz Sawade“ in Flensburg, obwohl dort vielen bekannt war, wer hinter diesem Pseudonym steckte. Heyde war auch in Hartheim – und soll dort dem Flötenspiel Georg Rennos gelauscht haben. Doch nicht nur, denn meist wurde hohem Besuch demonstriert, wie „effektiv“ man dort vorging. Hartheim nimmt einen traurigen Spitzenplatz ein, was die Zahl der Ermordeten betrifft: Dort wurden von Mai 1940 bis August 1941 über 18 200 Kranke und Behinderte vergast, später etwa 12 000 KZ-Häftlinge.
Der 45-jährige Georg Häberlein kam laut den Nachforschungen von Inge Kaesemann und Petra Blasius vom Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine am 4. Juli 1941 in Hartheim an und wurde vermutlich noch am selben Tag vergast. Georg Häberleins Enkelin Sigrid Heid aus Altertheim im Landkreis Würzburg hat die Umstände seines Todes erst kürzlich erfahren, ebenso ihre Schwestern Karin Eckert und Renate Teichmann. „Als wir Kinder waren, wurde über den Opa kaum gesprochen. Es hieß lediglich, er sei in Werneck gewesen und dort an einer Lungenentzündung gestorben“, erzählt Sigrid Heid. Jahre später fanden die Geschwister in den Unterlagen ihrer Mutter eine Urkunde von 1941, ausgestellt vom Standesamt Hartheim. Darin wurde der Ehefrau Georg Häberleins, Sofie, mitgeteilt, die Todesursache ihres Mann sei „Ruhr“. Damit nichts von den „Euthanasie“-Aktionen nach außen drang, wurden in den NS-Anstalten Sonderstandesämter eingerichtet – wie in Hartheim. Sie beurkundeten, was nicht der Wahrheit entsprach.
Womöglich kam die Urkunde in Verbindung mit einem „Trostbrief“, in denen mit Beileid heuchelnden Worten den Angehörigen mitgeteilt wurde, dass der Tod wegen der schweren Geisteskrankheit „eine Erlösung“ sei. „Wir haben nur die Urkunde“, sagt Sigrid Heid. So wie ihr ergeht es vielen Nachkommen von Opfern der NS-„Euthanasie“. Sie wissen wenig oder nichts. „Früher hat man sich geschämt“, vermutet Sigrid Heid als Grund für das Schweigen in der Familie. Sie wusste nicht, dass das Leben ihres Großvaters bereits im Ersten Weltkrieg aus den Fugen geraten war. Georg Häberlein wurde verschüttet. Die Verletzungen waren nicht schwer, schwerer traf es seine Seele. Er litt an diesem Trauma, vermutet Inge Kaesemann in der Biografie über Häberlein auf der Internetseite der Würzburger Stolpersteine.
1921 heiratete Georg Häberlein Sofie. Zwei Töchter kamen zur Welt. Das Glück dauerte knapp fünf Jahre. Am 26. Januar 1926 verließ er ohne ersichtlichen Grund seine Arbeitsstelle bei der Bahn. Ein Nervenleiden wurde festgestellt. Es folgte die Frühverrentung. „Zu Hause sitzt er untätig herum, redet unsinniges Zeug und wird entmündigt“, schreibt Inge Kaesemann. Kurz darauf ging er mit dem Messer auf seine Sofie los. Am 27. Juli 1927, ihrem Geburtstag, wurde Georg Häberlein in die Heil- und Pflegeanstalt Werneck eingeliefert. Laut Beschluss des Würzburger Stadtrates war er „wegen gemeingefährlicher Geisteskrankheit in einer Irrenanstalt zu verwahren“.
Seine Tochter Edith, die Mutter von Sigrid Heid, ist zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt. Sie konnte sich kaum an ihren Vater erinnern, erzählt Sigrid Heid. Ihr blieb jedoch ein Bild von ihm im Kopf: wie er in der Pflege- und Heilanstalt im Schloss Werneck aus dem Fenster schaut und seiner Familie nachwinkt. Georg Häberlein blieb in Werneck, bis die Anstalt im Oktober 1940 geräumt wurde. Über Lohr, Reichenbach und Mainkofen kam er am 4. Juli 1941 nach Hartheim – sein Todestag.
Bis am Heimgartenweg 18 in Würzburg, der Wohnung der Häberleins, ein Stolperstein verlegt werden konnte, waren intensive Nachforschungen nötig. Die Recherchegruppe der Würzburger Stolpersteine versucht seit zwei Jahren Licht in das Schicksal von etwa 120 Menschen zu bringen, die einst in Würzburg zu Hause waren und der T4-Aktion zum Opfer fielen. Ein Glücksfall bei der Recherche zu Georg Häberlein war, dass sich die Heiratsurkunde erhalten hat. „Über den Geburtsnamen seiner Frau und den Heimatort gelang es uns, die direkten Nachkommen zu finden“, so Petra Blasius von der Recherchegruppe. Sigrid Heid und ihre Schwestern sind froh, dass sie nun mehr über den Großvater wissen. Das Geheimnis um Opa Georg ist gelüftet, das Schweigen gebrochen.
Ausstellung – Vorträge – Filmdokumentation
Stolpersteine: Nicht nur für Georg Häberlein, sondern für 14 weitere Opfer der NS-„Euthanasie“-Aktion T4 wurden am 10. Februar in Würzburg Stolpersteine verlegt. Informationen über den Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine sowie über die Opfer im Internet: www.stolpersteine-wuerzburg.de
Ausstellung: Der Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine widmet den Opfern von Krankenmorden und NS-„Euthanasie“-Verbrechen von 19. März bis 30. April die Ausstellung „Ich. Mein Selbst. Selbstbilder aus psychiatrischen Anstalten“ im Martin-von-Wagner-Museum im Südflügel der Würzburger Residenz. Zu sehen sind Werke aus der Sammlung Prinzhorn des Universitätsklinikums Heidelberg: Dienstag bis Samstag von 10 bis 13.30 Uhr sowie an den Sonntagen 29. März, 12. und 26. April.
Vorträge zur Ausstellung im Martin-von-Wagner-Museum in der Residenz (jeweils 19 Uhr):
24. März: „Der nationalsozialistische Krankenmord im Kontext der Psychiatriegeschichte“ (Maike Rotzoll, Universität Heidelberg).
14. April: „Die Sammlung Prinzhorn heute“ (Thomas Röske, Uni Heidelberg).
23. April: „Zur Instrumentalisierung von Schamgefühlen durch den Nationalsozialismus“ (Stephan Marks, Sozialwissenschaftler, Freiburg).
29. April: „Das Schicksal der Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten Werneck und Lohr“ (Thomas Schmelter, Krankenhaus Werneck).
Film: Am 27. März zeigt das Central Programmkino in Würzburg um 18 Uhr den DDR-Dokumentarfilm „Die Affäre Heyde-Sawade“ (1963). Die Einführung dazu hält der Würzburger Historiker und Journalist Roland Flade.
„Als wir Kinder waren, wurde über den Opa kaum gesprochen.“
Sigrid Heid, Enkelin von Georg Häberlein, einem Opfer der NS-„Euthanasie“