Immer mehr alte Menschen, die gepflegt werden müssen – umgekehrt immer weniger Personal. Steht unser Pflegesystem vor dem Kollaps? Oder glückt eine Wende? Über die Situation der Pflege vor Ort führte diese Redaktion mit Sabine Dittmar ein langes Gespräch.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete aus Maßbach (Lkr. Bad Kissingen) ist Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesgesundheitsminister und stellte sich offen den Fragen. Doch wie berichtet wurde bei der Autorisierung das Interview zurückgezogen – offenbar auf Intervention von SPD-Minister Karl Lauterbach.

Warum das Gesundheitsministerium die Veröffentlichung blockierte, ließ die Pressestelle auf Anfrage unbeantwortet. Jetzt die Kehrtwende: Dittmar gab das Gespräch nun doch noch frei. Ausgeklammert wurden allerdings Fragen zur Finanzierung. Es ging in den Passagen um steigende Versicherungsbeiträge und andere Sicherungsinstrumente, etwa die Anerkennung der privaten Pflege für die Rente.
Hier also das autorisierte Gespräch.
Frage: Frau Dittmar, Sie sind Ärztin. Wie gesund oder wie krank ist die Pflege in Deutschland?
Sabine Dittmar: Da müssen wir differenzieren. Fakt ist, dass rund drei Viertel aller Pflegebedürftigen ambulant zu Hause versorgt werden, die übrigen in den Heimen. Beide Bereiche haben ihre Schwierigkeiten: Ambulant muss es möglich sein, Entlastungsleistungen flexibler in Anspruch zu nehmen. Stationär steigen die Heimkosten. Fachkräftemangel ist ein Problem von beiden Bereichen. Wir wollen daher mit der Pflegereform Änderungen und Verbesserungen erreichen.
Woran liegt es, dass in den Heimen der Eigenanteil immer weiter steigt?
Dittmar: Er setzt sich aus verschiedenen Faktoren zusammen. Die Pflegeversicherung deckt nur einen Anteil der eigentlichen Pflege ab. Ohne Berücksichtigung der Zuschläge kostet ein Pflegeplatz in Bayern durchschnittlich 2238 Euro pro Monat, davon 1115 Euro für die Pflegekosten. Abgezogen werden aber die Zuschläge zwischen 5 und 70 Prozent, die die Pflegekasse je nach Verweildauer bezahlen. Einen großen Brocken macht der Anteil für Investitionskosten aus – in manchen Heimen unserer Region liegt er bei über 1000 Euro. Auch Ausbildungskosten sowie Kost und Logis schlagen sich im Eigenanteil nieder. Dafür ist die Pflegeversicherung nicht zuständig. Wichtig ist mir: Der durchschnittliche Eigenanteil für Pflegebedürftige fällt durch die erwähnten Zuschläge nicht höher, sondern niedriger aus als in den letzten Jahren. Wer im dritten Jahr in einem Heim versorgt wird, zahlt in Bayern durchschnittlich nicht 1115 Euro pflegebedingten Eigenanteil, sondern nur 614 Euro, ab dem vierten Jahr sogar nur noch 335 Euro.
Trotzdem kommen leicht Kosten von 3000 oder gar 4000 Euro im Monat zusammen. Das überfordert viele Senioren oder deren Partner.
Dittmar: Ja, aber Sie dürfen nicht übersehen: Auch zu Hause müssen Sie für Ihren Lebensunterhalt, Ihre Miete und Ihre Heizung bezahlen, aber die hohen Investitionskosten sind schon ein Ärgernis. Für diese ist eigentlich das Bundesland zuständig. Da hat sich der Freistaat Bayern in den letzten Jahren einen schlanken Fuß gemacht und sich aus der Investitionsförderung der Einrichtungen herausgezogen. Da bräuchte es deutlich mehr bayerisches Engagement.

Wie kommt es, dass sich Träger von Pflegeeinrichtungen von der Politik nicht gehört fühlen?
Dittmar: Wir selbst in meiner Abteilung im Gesundheitsministerium sind im regen Austausch mit den Trägern, auch wenn nicht alles Gewünschte umgesetzt werden kann. Aber ich kenne die Themen. Leiharbeit, 35-Stunden-Woche, weniger Bürokratie...
Sehr gut, dann konkret: Stört Sie die teure Leiharbeit in der Pflege?
Dittmar: Das beschäftigt uns intensiv. Wir haben aber noch kein Konzept für eine rechtssichere Lösung. Es gibt Vereinbarungen im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege für die Verhandlungen zwischen Trägern und Pflegekassen: Danach soll Leiharbeit nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen. Ich kann sie aber auch nicht einfach verbieten.
Warum nicht?
Dittmar: Weil wir nicht komplett auf Leiharbeit verzichten können. Sie ist notwendig, um Spitzen oder Extremsituationen, zum Beispiel durch Personalausfälle, auszugleichen. Und ich kann sie rein rechtlich nicht für einen Teilbereich, hier für die Pflege, verbieten. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Träger ein komplettes Verbot wollen. Als Gesetzgeber haben wir geregelt, dass beim Einsatz von Leiharbeitskräften im Bereich der Krankenhäuser nur der Tariflohn refinanziert wird.

Aber das ist doch gerade das Problem: Man braucht die Leute, sie kosten aber nicht selten das Doppelte bis Dreifache normaler Pflegekräfte. Die Rede ist von bis zu 15.000 Euro pro Monat.
Dittmar: Eine gute Alternative könnten einrichtungsübergreifenden Springer-Pools sein, hier gibt es aktuelle Ergebnisse zum Beispiel aus Modellversuchen der Bayerischen Diakonie. Pflegekräfte können dort zeitlich flexibel in mehreren Pflegeheimen eingesetzt werden, um personelle Engpässe auszugleichen. Die Folge: Das "Holen aus dem Frei" wird vermieden, es gibt verlässlichere Dienstpläne für alle Pflege- und Betreuungskräfte.
Drängen überzogene Fachkraftquoten – also verbindliche Regeln, wie viele Fachkräfte mindestens pro Schicht im Einsatz sein müssen – die Heimträger in die Leiharbeit?
Dittmar: Die neue Personalbemessung für Altenheime befindet sich gerade in der Umsetzungsphase. Da ist man ja weggekommen von der 50-Prozent-Fachkraftquote. Jetzt ist sie mehr von der Situation im jeweiligen Heim und den Pflegegraden abhängig. Wichtig: Im Ergebnis gibt es dabei nicht weniger Fachkräfte, sondern mehr Hilfskräfte.

Und wenn ich als Träger die Quote kurz unterschreite, muss ich mit Sanktionen rechnen?
Dittmar: Ein kurzfristiges Unterschreiten aus nachvollziehbaren Gründen führt nicht zu Sanktionen. Aber Fakt ist: Wenn du deinen Personalschlüssel über längere Zeit unterschreitest, dann ist damit irgendwann eine Gefährdung für die Bewohner im Heim verbunden. In diesen Fällen kann es zu Sanktionen kommen – zum Beispiel zu Belegungsstopps, wenn sonst die Qualität gefährdet ist, oder zu Vergütungskürzungen.
Viele Pflegekräfte arbeiten nicht mehr in Vollzeit, weil sie es psychisch und körperlich nicht packen.
Dittmar: Ja, das ist ein weiteres Problem in der Krankenhaus- und in der Langzeitpflege. Wir haben eine wahnsinnig hohe Teilzeitquote. Aber die Mitarbeitenden stocken erst auf, wenn die Rahmenbedingungen besser sind.

Da kommt die 35-Stunden-Woche ins Spiel, um den Job attraktiver zu machen. Was spricht dagegen?
Dittmar: Nichts! Aber das verhandeln die Tarifpartner. Der Gesetzgeber gibt nur die Maximalarbeitszeit vor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Gewerkschaften einer 35-Stunden-Forderung der Arbeitgeber verwehren würden. Allerdings glaube ich nicht, dass sie Mehrheitsmeinung bei den Einrichtungsträgern ist. Ich bekomme häufig das Argument zu hören, dass sich dann der Personalmangel weiter verschärfen könnte.
Private Träger scheinen mit Heimen noch ganz gut zu verdienen. Läuft da was schief?
Dittmar: Mir ist wichtig: Die gesetzlichen Anforderungen an die Qualität der Pflege und die Personalausstattung gelten für alle Einrichtungen, auch für private Träger. Sie dürfen auf keinen Fall Rendite zu Lasten der Pflegebedürftigen oder der Pflegekräfte machen. Aber Gewinne gesetzlich zu begrenzen, ist verfassungsrechtlich gar nicht so einfach. Was ich mich frage: Warum finden Heime, die auf Gewinnmaximierung aus sind und gleichzeitig schlechte Arbeitsbedingungen bieten, überhaupt noch Personal? Aber mit dem Tariftreuegesetz haben wir mittlerweile Hungerlöhne in der Pflege auch unterbunden.

Das Renditestreben wird auch auf dem Rücken der Bewohner ausgetragen: Wenn zum Beispiel bei 100 Leuten nur für 80 gekocht wird. Es gab zuletzt Pflegeskandale in der Region.
Dittmar: Die sollte es nicht geben. Deshalb brauchen wir, um Missstände wie in Kitzingen oder Gleusdorf besser aufdecken zu können, verlässliche Kontrollen! Das ist bei ambulanten Wohngemeinschaften aber schon wieder schwierig, weil man nicht so einfach in privaten Wohnraum hineinkommt. Kontrollen – das muss jedem, auch den Beschäftigten in der Pflege klar sein – haben nichts mit Misstrauen zu tun, sondern mit Transparenz und Sicherung der Qualität.
Wir haben in Deutschland rund 100 Kranken- und Pflegekassen. Lässt sich da noch Geld sparen?
Dittmar: Ich glaube nicht, dass man hier nennenswerte Summen einsparen kann. Den Anstieg der Verwaltungskosten bei den Krankenkassen haben wir auf maximal drei Prozent beschränkt. In der Pflegeversicherung waren und sind die Verwaltungsausgaben schon immer gesetzlich beschränkt, auf etwas mehr als drei Prozent.
Sie haben eingangs den Fachkräftemangel angesprochen. Zermartern Sie sich jeden Tag den Kopf darüber?
Dittmar: Ja, das Thema beschäftigt mich sehr. Es wird ohne Zuwanderung aus dem Ausland nicht gehen, das gilt nicht nur für die Pflege.
"Es wird ohne Zuwanderung aus dem Ausland nicht gehen."
Sabine Dittmar, SPD-Gesundheitspolitikerin, über den Fachkräftemangel
Können wir es uns noch leisten, Menschen zur Pflegehelfer-Ausbildung nach Deutschland zu holen und sie dann wieder zurückzuschicken?
Dittmar: Nein, Quatsch, natürlich nicht! Unser ganzes Einwanderungssystem ist zu unflexibel. Wir mussten uns in der letzten Legislaturperiode mit einem Kompromiss zufriedengeben. Die Union hat es immer noch nicht begriffen, dass wir ein Einwanderungsland sind und wir die Arbeitskräfte brauchen – nicht nur Fachleute, sondern auch Hilfskräfte.
Häufig scheitert es an der Anerkennung von Ausbildungen oder Abschlüssen.
Dittmar: Auch das ärgert mich! Oftmals sind die Abschlüsse, die im Heimatland erworben wurden, hochwertiger als die vergleichbaren bei uns. Wir hätten gerne eine bundeseinheitliche Regelung gehabt und haben dafür auch einen Vorschlag mit Kriterien erarbeitet. Die Bundesländer haben aber nicht mitgemacht. Sie wollen die Möglichkeit der Einzelfallentscheidung weiter haben. Wir haben da einen Flickenteppich, der es sicher nicht einfacher macht.
Also wären Sie für eine schnellere, leichtere Anerkennung von Pflegeausbildungen im Ausland?
Dittmar: Ja klar. Natürlich müssen Fach- und Hilfskräfte, die nach Deutschland kommen, nachweisen, was sie können. Aber es gibt einfachere Wege, als den Abschluss erst einmal nicht anzuerkennen. Ich durfte ein Pilotprojekt besuchen, in dem zehn Pflegekräfte von den Philippen im Vogtland arbeiten. Das sind ausgebildete Fachkräfte, teilweise sogar akademisch. Sie sind über ein Förderprogramm meines Ministeriums gekommen, sind jetzt in den Heimen angestellt und bekommen dazu intensive Sprachförderung. Aber wichtig: Sie müssen keine Prüfung nachholen. Am Ende des Projekts wird dann in einem Abschlussgespräch entschieden, ob fachliche und sprachliche Qualifikation ausreichen.

Zuwanderung ja – aber welche Möglichkeiten gibt es, diesen Pflegeberuf auch für Einheimische attraktiver zu machen?
Dittmar: Das wird die Politik nicht alleine schaffen. Wir haben geregelt, dass Tariflöhne bezahlt werden, haben mehr Stellen für Fach- und Hilfskräfte geschaffen, erhebliche Mittel für betriebliche Gesundheitsförderung ausdrücklich für den Pflegebereich und einen Fördertopf für Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bereitgestellt. Und wir haben die Ausbildung angepasst und damit aufgewertet. Aber es geht auch um Verlässlichkeit, flexiblere Dienstpläne, bessere Rahmenbedingungen oder Wertschätzung. Das müssen auch Arbeitgeber leisten.
Also geht es nicht nur um bessere Bezahlung.
Dittmar: Es ist nicht das Geld allein. Eine ausgebildete Krankenschwester oder Altenpflegerin bekommt ein gutes Tarifgehalt. Der Spagat, den auch die Berufsverbände schaffen müssen, ist: Ich muss auf Defizite hinweisen, ohne dass ich einen Beruf schlecht rede mit der Folge, dass sich die Probleme noch verschärfen und keiner mehr Interesse hat, ihn zu ergreifen. Wo wir in Deutschland noch großen Nachholbedarf haben, ist bei Substitution und Delegation – das Arbeiten auf Augenhöhe. Bei uns ist viel zu vieles zu arztzentriert. Unsere Pflegekräfte können mehr. Sie brauchen mehr Kompetenzen und Verantwortung. In der Eurokrise hatten wir eine Menge Pflegekräfte aus Spanien. Die waren schnell wieder weg, weil sie es nicht gewohnt waren, keine Infusionen legen und auch sonst kaum eigenständig arbeiten zu dürfen.
Was halten Sie vom Vorschlag des Bundespräsidenten, ein verpflichtendes soziales Jahr für junge Menschen einzuführen?
Dittmar: Wenn, dann könnte man ein solches Jahr wohl kaum auf den sozialen Bereich begrenzen. Ich glaube nicht, dass ein solcher Dienst unser Problem lösen wird. Aber es könnte helfen, mehr Bewusstsein für die Pflege zu schaffen.