Gegner der Corona-Maßnahmen beklagen die Einschränkung von Grundrechten. Doch wie weit darf der Gesetzgeber in der Pandemie gehen? Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dabei besonders wichtig. Am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Würzburger Julius-Maximilians-Universität beschäftigt sich Henrik Eibenstein mit den rechtlichen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie. Nachfolgend werden die wichtigsten Fragen zu den Grundrechten beantwortet.
Womit begründet der Staat die Einschränkungen in der Corona-Pandemie?
Der Staat begründet die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie dem Würzburger Juristen Henrik Eibenstein zufolge durch im Grundgesetz verankerte Schutzpflichten. In bestimmten Fällen entsteht für den Staat die Pflicht, das "Leben und die körperliche Unversehrtheit" der Bürger vor äußerlichen Bedrohungen zu schützen. "Das Bestehen solcher Schutzpflichten sagt allerdings noch nichts darüber aus, wie sie konkret zu erfüllen sind", so Eibenstein. Auch gebe es keinen Automatismus, nach dem sich alle Grundrechte solchen Schutzpflichten ausnahmslos unterzuordnen haben.
Der Staat darf Grundrechte nur so weit einschränken, wie es verhältnismäßig ist. Aber was heißt das?
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat seine Wurzeln laut Eibenstein in unserer Verfassung. Immer dann, wenn staatliche Maßnahmen in Grundrechte eingreifen, müssten sie sich an diesem Grundsatz messen lassen. Konkret verlangt er, dass die Grundrechtsbeschränkung einem legitimen Zweck dient und darüber hinaus geeignet, erforderlich und angemessen ist. Diesen „Vierschritt“ muss jeder Grundrechtseingriff durchlaufen. "Dabei stellt die Bekämpfung einer hochansteckenden Infektionskrankheit fraglos einen legitimen Zweck dar", erklärt der Jurist. Von der Geeignetheit, über die Erforderlichkeit, bis hin zur Angemessenheit setze der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dem Staat aber immer höhere Hürden.

Wann sind Beschränkungen der Grundrechte "geeignet" und "erforderlich"?
Während die Geeignetheit nur verlangt, dass der verfolgte Zweck durch die konkrete Grundrechtsbeschränkung gefördert werden kann, zieht die Erforderlichkeit deutlich engere Grenzen. Dieser Prüfungsschritt erfordert nämlich, dass es kein anderes, genauso geeignetes Mittel gibt, das weniger intensiv in das Grundrecht eingreift. "Die große Herausforderung im Rahmen der Corona-Pandemie ist, dass die Tatsachengrundlage größtenteils ziemlich unsicher ist", sagt Jurist Eibenstein. Das heißt: Auch nach über einem Jahr mit dem SARS-CoV-2-Virus gebe es noch immer ein erhebliches "Erkenntnisvakuum" in der Wissenschaft. "Da häufig nicht zuverlässig beantwortet werden kann, ob bestimmte Maßnahmen nicht weniger grundrechtsintensiv, aber gleichsam effektiv wären, kommt dem Staat auch hier ein recht weiter Einschätzungsspielraum zu", erklärt Eibenstein.
An welche Grenzen muss sich der Gesetzgeber halten?
Der Spielraum des Staates ist nicht grenzenlos. "Wenn etwa Verwaltungsgerichte in der Vergangenheit Ausgangsbeschränkungen kassiert haben, dann zumeist deshalb, weil sie diese nicht als erforderlich angesehen haben", erläutert der Würzburger Jurist. Gerichte argumentierten, dass eine verstärkte Kontrolle der Kontaktbeschränkungen und das Verbot, besonders frequentierte Bereiche aufzusuchen, zur Kontaktreduzierung ebenso effektiv, aber weniger "grundrechtsintensiv" wären – betroffene Grundrecht also weniger stark einschränken würden. Im vierten Prüfungsschritt wird die Angemessenheit untersucht. Dabei soll sichergestellt werden, dass die mit einem staatlichen Eingriff einhergehenden Belastungen nicht "außer Verhältnis" zu dem verfolgten Ziel stehen. "Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist der Dreh- und Angelpunkt gerichtlicher Überprüfung", so Eibenstein.

Gibt das Infektionsschutzgesetz eine rechtliche Grundlage für eine Impfpflicht gegen Covid-19 her?
Ja. Im Grunde seien das Bundesministerium für Gesundheit sowie die bayerische Landesregierung laut Eibenstein bereits heute durch das Infektionsschutzgesetz dazu in der Lage, durch Rechtsverordnung eine Impfpflicht festzusetzen. Der Deutsche Bundestag könnte ebenfalls durch ein Gesetz eine Impfpflicht einführen. Wer beispielsweise in erzieherischen oder medizinischen Bereichen arbeitet, muss sich bereits gegen Masern impfen lassen, wenn er weiterhin dort tätig sein will. Genau genommen handelt es sich dem Doktoranden der Universität Würzburg zufolge dabei aber nicht um eine Impfpflicht, da sie der Staat nicht mit Zwang durchsetzen kann. Einer "echten Impfpflicht" setzt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Grundgesetzes laut Eibenstein "sehr hohe Hürden". "Das bloße Interesse an einer schnellen Pandemiebekämpfung rechtfertigt für sich genommen noch keine Impfpflicht", sagt der Jurist.
Welche Folgen können Einzelurteile gegen Corona-Maßnahmen haben?
Klagt ein Bürger vor einem Verwaltungsgericht zum Beispiel erfolgreich gegen eine von der Stadt verfügte Maskenpflicht im öffentlichen Raum, so gilt die Entscheidung zunächst einmal nur für ihn. "Die davon ausgehende Signalwirkung veranlasst die Exekutive allerdings regelmäßig dazu, die entsprechende Anordnung generell aufzuheben oder entsprechend zu überarbeiten", so Eibenstein. In Bayern hat jeder Bürger außerdem das Recht, vor dem Verwaltungsgerichtshof gegen Rechtsverordnungen zu klagen. Die Entscheidung dieses Gerichts ergeht allgemeingültig – also nicht nur für den Kläger.
Wird durch die „Corona-Notbremse“ des Bundes der Föderalismus ausgehebelt?
"Der Föderalismus lässt sich überhaupt nicht aushebeln", sagt der Jurist. Der Bundesrat, der die bundespolitischen Interessen der Länder bündelt, kann immer bei der Gesetzgebung des Bundes mitwirken – teilweise muss er das sogar. Das gilt in gleicher Weise für die „Corona-Notbremse“, also die Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Zum Beispiel hat der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans angekündigt, im Bundesrat Einspruch gegen die derzeitige Fassung der Gesetzesänderung zu erheben. Für das Infektionsschutzrecht liegt die Gesetzgebungskompetenz aber ohnehin beim Bund.