„Wie kann ich überleben, wo krieg ich was zu essen her, das hat mich in eurem Alter interessiert“, sagt der Holocaust-Überlebende Herbert Mai. „Ihr spielt wahrscheinlich Fußball und habt Mädels im Kopf“, fügt er hinzu. Im Ton seiner Stimme liegt kein Vorwurf, im Gegenteil er strahlt freundlich. Trotzdem ist Unsicherheit zu spüren, Blicke haften am Boden, verhaltenes Lachen ist zu hören. Der 82-jährige Herbert Mai sitzt in einem kleinen Raum des jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrums Shalom Europa, eine Kamera ist auf ihn gerichtet, um ihn herum sieben Schüler der elften Klasse des Deutschhaus-Gymnasiums.
Herbert Mai war zwölf Jahre alt, als er und seine Eltern im November 1941 mit 202 anderen Juden von Würzburg in den Osten verschleppt wurde. Er überlebte als einziger der Familie das Konzentrationslager Jungfernhof nahe der lettischen Hauptstadt Riga. Nach Kriegsende kehrte der Junge allein in das zerstörte Würzburg zurück, bevor er in die USA auswanderte.
Heute, fast 70 Jahre später, ist Mai einer von 24 jüdischen Holocaust-Überlebenden aus Würzburg, die auf Einladung von Oberbürgermeister Georg Rosenthal, aus der ganzen Welt in ihre frühere Heimatstadt zurückgekehrt sind. „Warum sind Sie hierher zurückgekommen“, fragt Schüler Jakob Procher. „Ich suche meine Jugend – die haben sie mir hier gestohlen“, sagt Mai. „Ich bin bereits zum sechsten Mal hier, gefunden habe ich sie nicht“, so Mai.
Zuerst hatte er gezögert, als er gefragt wurde, ob er das Schülerinterview machen wolle. Doch dann überlegte er es sich anders. „Wer soll den jungen Leuten denn erzählen, wie die Lebensumstände in der Zeit des Nationalsozialismus für uns waren, wenn nicht ich“, so Mai.
„Kerle, wie ihr, sind uns nachgegangen, haben „Judenstinker“ gerufen und uns einfach verprügelt. Passiert ist ihnen nichts“, erzählt er. „Als sie uns zum Abtransport zusammentrieben, haben sie uns mit Knüppeln geschlagen und wahllos Menschen erschossen“, so Mai weiter. „Das ist echt hart“, sagt Procher. „Was wurde Ihnen und Ihrer Familie denn vorgeworfen?“ „Nichts. Es gab nur einen Grund: Wir waren Juden“, entgegnet Mai. Betroffenes Schweigen, ungläubige Blicke: „Das ist Wahnsinn, wie so was passieren kann“, sagt Schüler Yannik Paul.
Begriffe wie „Holocaust“ oder „Konzentrationslager“ kennen die 16- bis 18-Jährigen nur aus ihren Geschichtsbüchern. „Deshalb sind solche Gespräche so wichtig“, sagt Daniela Hartung. Sie war an den Vorbereitungen des Besuchs der ehemaligen Würzburger beteiligt und arbeitet an dem Projekt „wachsam sein“ der Jugendbildungsstätte Unterfranken, das sich mit Erinnerung auseinandersetzt.
„Ich bin erstaunt, wie ruhig er da sitzt und seine Geschichte erzählt.“
Yannik Paul Schüler
„Ich wollte jungen Menschen solch eine Begegnung ermöglichen“, sagt Hartung. Als die Schüler hörten, dass Herbert Mai und einige andere Überlebende bereit sind, sich ihren Fragen zu stellen, waren sie begeistert. „Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, und es ist vielleicht die letzte Gelegenheit, etwas persönlich von ihnen zu erfahren“, sagt Schüler Erik Endres.
In zwei Sensibilisierungsseminaren haben sich insgesamt 26 Gymnasiasten der elften Klassen des Deutschhaus-Gymnasiums auf die Interviews vorbereitet. Sie besuchten Denkmäler und einige Stolpersteine und entwickelten gemeinsam ihre Fragen.
„Ich versuche das alles zu begreifen“, sagt Schüler Yannick Paul. Doch Herbert Mai winkt ab: „Wie sollt ihr das verstehen, ich kapiere ja selbst nicht, wie es so weit kommen konnte.“ Paul bewundert den alten Mann: „Ich bin erstaunt, wie ruhig er da sitzt und ganz locker seine Geschichte erzählt.“
Mai beneidet die Schüler: „Ich wäre gern noch einmal 17 Jahre alt“, sagt er. „Dann würde ich jetzt mit euch um die Häuser ziehen.“ Er dreht sich zu einem der Mädchen um und sagt schelmisch: „Und dich würde ich um ein Date bitten, du gefällst mir.“ Doch seine Jugend bekommt Mai nicht zurück. „Warum konnte ich das alles nicht haben“, fragt er sich seufzend.