Seit 13 Jahren, seit dem August 1991 ist Hildegard Kessler Erzieherin i.R. Doch während dieses Kürzel bei anderen "in Rente" oder "in Ruhestand" bedeutet, steht es bei Hildegard Kessler für "in Reichweite". Die 78-jährige Erzieherin und ehemalige Gruppenleiterin im Vinzentinum kam gar nicht auf die Idee, sich aufs so genannte Altenteil zurückzuziehen. Jeden Tag seit ihrer Pensionierung übernimmt sie in der heutigen Schule mit Hort ehrenamtliche Aufgaben. Sie sperrt jeden Morgen um sechs Uhr die Schultüre auf, empfängt die Kinder mit einem, vielleicht dem ersten, freundlichen Lächeln, füttert die Tiere des Heimes am Abend und am Wochenende, verkauft Pausenbrote, strickt Socken für Täuflinge und Kinder in Not und, und, und.
Die Liste ihrer Tätigkeiten, die für den Tagesablauf und das Klima an der katholischen Schule und dem Hort von unschätzbarem Wert sind, ist lang. Doch so selbstverständlich der Dank von Tagesheimleiter Gerhard Gabel, den Lehrern, Erziehern, Eltern und Kindern sein müsste, Hildegard Kessler will davon nichts hören. "Die Freude an meiner Arbeit wiegt den Einsatz vielfach auf", sagt sie. Das Wort Mühe für ihre Tätigkeiten würde ihr wohl nie über die Lippen kommen, im Gegenteil: "Ich hätte mir mein Alter nicht so schön vorgestellt."
Nach ihrem Ruhestand blieb sie nicht nur geistig im Vinzentinum, sie ist tatsächlich in Reichweite, hat eine Wohnung oberhalb der Hortgruppen. "Meine heile Welt", nennt sie ihr Zuhause, obwohl das immer in Reichweite der Kinder und Jugendlichen, immer in Reichweite für die Kinder und Jugendlichen liegt. Nur eines nimmt sie sich heraus: das Kaffestündchen am Freitagnachmittag mit Heimleiter Gerhard Gabel, der sie den 14. Nothelfer des Vinzentinums nennt. "Sie ist eingesprungen für kranke Lehrer, war auf Klassenfahrten dabei und hat manche Ferienfreizeit überhaupt erst ermöglicht", erinnert er sich.
Bereits mit 18 Jahren, anno 1944, begann die gelernte Schneiderin als Helferin für schwer Erziehbare in einem Mädchenheim und in München, sich um Kinder zu kümmern. 1959 kam sie als Erziehungskraft nach Würzburg ins Vinzentinum, war seit 1972 Gruppenleiterin der Tagesheimgruppe, dann der Heimgruppe und schließlich wieder, von 1985 bis 1991 für die Tagesheimkinder der 7. bis 9. Klasse zuständig. Ihr prominentester Zögling als Heimgruppenleiterin von 1979 bis 1985 war übrigens Fußballprofi Bernd Hollerbach, der quasi bei ihr "das Fußballspielen gelernt hat".
"Er kam immer wieder gerne zurück", erinnert sie sich. Ebenso ein Zeichen für die allgemeine Anerkennung ihrer Arbeit bei Eltern und Kindern wie der Stammtisch des Entlassjahrgangs 1987, der sich noch immer alle Monate trifft. Der Ehrengast: Hildegard Kessler, die zu den Treffen immer vom Vinzentinum abgeholt wird. Unter den Kindern heißt sie übrigens nur "Frau Hildegard", eine Tradition aus der Zeit, als das Heim noch von den Hedwig-Schwestern geleitet wurde. "Die Ordensfrauen wurden eben Schwester genannt und wir Weltlichen mit Fräulein angeredet", erinnert sie sich. Nur dass aus "Fräulein" inzwischen "Frau" geworden ist.
Während sich vieles ihres ehrenamtlichen Einsatzes nicht in Euro und Cent beziffern lässt, so hat doch der von Kessler durchgeführte Pausenverkauf einiges Geld in die "Vinz-Kassen" gespült. Immer aber mit der Auflage, damit gezielt Anschaffungen für die Kinder und Jugendlichen zu tätigen: die Zeltlagerausrüstung und Werkräume, der Traktor und der Bauwagen, das Spielehaus im Hof und ein Schlauchboot mit Motor, die Disco im Keller und der Billiardtisch - die Kinder im Vinzentinum hätten ohne "Frau Hildegard" heute weniger Entwicklungsmöglichkeiten.