Die letzte Übersicht zur Pflanzenwelt Bayerns stammte von 1914. Jetzt, 110 Jahre später, ist eine neue, umfassende "Flora von Bayern" erschienen: ein vierbändiges Mammutwerk, 3000 Seiten stark, 14 Kilo schwer. 5886 Pflanzensippen und 4778 Arten sind darin erfasst. Über Jahrzehnte waren mehr als 200 Ehrenamtliche aus ganz Bayern an dem Projekt beteiligt. Einer der Herausgeber und der Hauptakteur in Unterfranken: Lenz Meierott, Musikwissenschaftler und bis 2007 Professor an der Hochschule für Musik in Würzburg.
Der 82-Jährige, der in Gerbrunn lebt, ist seit Jahrzehnten auch als Botaniker aktiv und gilt als herausragender Kenner der Flora Unterfrankens. Wie kam's dazu – und wie wichtig ist das neue Nachschlagewerk?
Herr Meierott, wann haben Sie Ihre erste Pflanze bestimmt? Erinnern Sie sich?
Prof. Lenz Meierott: Da dürfte ich zehn Jahre, elf Jahre alt gewesen sein. Es geht recht weit zurück.
Wieso beschäftigt sich ein Musikwissenschaftler so intensiv mit Botanik?
Meierott: Nun ja, die Hälfte meines Lebens ist Musik, die Hälfte ist Botanik. Und die beiden Hälften haben sich ganz gut vertragen.
Dass es beruflich die Musik wurde – Zufall?
Meierott: Nein. Ich wusste am Anfang nicht, ob ich Naturwissenschaften oder Musik machen wollte. Dann habe ich mich für die Musik entschieden, Schulmusik und Querflöte in München studiert. Dann habe ich in Würzburg noch Musikwissenschaften studiert und war dann 25 Jahre mit einer Professur für Musikpädagogik und Musikwissenschaft hier an der Hochschule für Musik.
In welcher Flora und Naturlandschaft sind Sie groß geworden?
Meierott: Ich bin in Nürnberg geboren, war Mittelfranke und bin jetzt hoffentlich eingemeindeter Unterfranke.

Zumindest dürfte es kaum jemanden geben, der Unterfranken so durchstreift hat, wie Sie. Woher die Liebe zur Botanik?
Meierott: Meine Mutter hat sich ein bisschen für Pflanzen interessiert, mein Vater mehr für Vögel. Aber am Wochenende war ich oft mit ihnen draußen, in der Fränkischen Alb und anderen schönen Gegenden. Irgendwann hatte es mich gepackt. Ich war eifrig und bin als 12-, 13-Jähriger am Gymnasium in den Pausen oder nach dem Unterricht rüber in die Stadtbibliothek und habe aus Gustav Hegis Flora von Mitteleuropa etwas abgeschrieben. Und das wurde immer tiefer. Es ist der alte Spruch: Je mehr man weiß, desto mehr weiß man, dass man nichts weiß . . .
Das Stichwort: Jetzt ist die "Flora von Bayern" erschienen, Sie sind Mitherausgeber. Wieso macht man so was?
Meierott: Nun, die letzte "Flora von Bayern" stammte von 1914. Seither gab es keine. 2011 hat sich dann eine Arbeitsgruppe in München zusammengesetzt. Es war die Absicht, den aktuellen Kenntnisstand über die Flora – über die höheren Pflanzen, also nicht Moose, nicht Flechten, um genau zu sein – zu dokumentieren. Um Naturliebhabern, Botanikern, auch dem Fach Naturschutz eine Grundlage zu geben. Insgesamt waren es dann sicher über 200 Kartiererinnen und Kartierer, die ehrenamtlich mitmachten. Es war ein wirkliches Gemeinschaftsprojekt. In Unterfranken waren wir sicher über zwei Dutzend Mitarbeiter und wir hielten allen guten Kontakt. Ich bin meistens allein durch die Natur gestreift, in mehreren Regionen in Bayern.

Wie darf man sich das vorstellen? Was war der Auftrag für jeden einzelnen?
Meierott: Wir haben koordiniert, wer in welcher Region welche topografischen Karten, welche Quadranten zu bearbeiten hätte. Dann bekam ich Listen, hab sie durchgesehen, hab sie korrigiert, manchmal nachgefragt. So etwas dauert mehrere Jahrzehnte . . .
Jahrzehnte?
Meierott: Die floristische Kartierung hat schon 1970 begonnen in der ersten Phase. In der zweiten Phase, ab 2013, sind wir auch vom Landesamt für Umwelt LfU unterstützt worden. Da war noch intensive Arbeit nötig, denn es gab viele Regionen in Bayern, die noch keine neuen Ergebnisse mit Kartierungen hatten.
"Perfektes Wetter gibt es eigentlich nicht."
Lenz Meierott über das Suchen und Kartieren draußen
Haben Sie jemals Ihre Arbeitszeit erfasst, überschlagen?
Meierott: Nein, das habe ich nicht. Das wäre auch müßig. Ich liebe die Natur, ich liebe die Pflanzen und habe keine Kontrolle über meine Stunden.
Was ist das perfekte Wetter für einen Kartierer und Pflanzenbestimmer?
Meierott: Perfektes Wetter gibt es eigentlich nicht. Wichtig ist unter anderem, dass die Pflanzen, die man suchen will, auch irgendwie blühen.
Ein eingeschränkter Zeitraum.
Meierott: Ja, aber Sie wissen: Es gibt Pflanzen, die im März blühen, und Pflanzen, die im Oktober, November blühen. Man muss zumindest in den wichtigen Vegetationsperioden mal in einer Region gewesen sein und auf seiner Liste schauen, was kann ich anstreichen. Für die Flora von Bayern ist eine Unmenge an Beobachtungsdaten zusammengekommen. Wir hatten am Schluss 15,9 Millionen Einzeldaten.
Pflückt ein Kartierer eigentlich auch?
Meierott: Also "pflücken" nicht. Ich pflücke vielleicht einen Strauß, den ich meiner sehr vernachlässigten Frau schenken kann. Aber für kritische Arten brauche ich natürlich Belege. Wenn man fünf, sechs seltene Einjährige nebeneinander hat – was tut man da? Fotografiert man sie? Zum nachträglichen Bestimmen ist ein Beleg immer wichtiger als ein Foto.
Ob Supermarkt-Parkplatz, Straßenrand, Vorgarten - können Sie überhaupt irgendwo unterwegs sein, ohne sich zu bücken und nach Pflanzen zu gucken?
Meierott: Da müsste ich die Hände vor die Augen halten. Meine Familie sagt dann: Jetzt hat er wieder seinen Bodendecker-Blick . . .
Wie "gut" ist die Flora von Bayern jetzt im Vergleich zu der bisherigen von 1914?
Meierott: Vollmanns Flora von 1914 ist auch heute noch ein wichtiges Dokument, aber wir haben heute ein Drittel mehr an Arten. Einiges gab es vor 110 Jahren noch nicht. Wir haben viele Neophyten. Wir haben jetzt insgesamt 5886 Sippen für Bayern nachgewiesen. Die Taxonomie vor 110 Jahren war eine andere als heute. Es sind neue Arten beschrieben worden, Gattungen wurden neu bearbeitet. Da hat sich sehr viel geändert.
"Die reine Artenzahl wird immer größer."
Lenz Meierott über den Wandel in der Flora in Unterfranken
Stichwort Veränderung. Auf Unterfranken bezogen: Was gibt es heute nicht mehr, was sie von früher kennen? Wie viel ist dazu gekommen?
Meierott: Eine Flora steht nie still. Wir haben für Gesamtbayern – "nur" muss ich sagen - 82 Arten, die ausgestorben oder verschollen sind. Und wir haben mehr als 2000 Neophyten, die neu – über Flugzeuge, Schiffe, Bahn, Auto, irgendwelche Wege – nach Bayern getragen wurden. Obwohl alle sagen, es wird immer weniger, muss ich feststellen: Die reine Artenzahl wird immer größer. Natürlich kann man sagen, Neophyten mag man nicht. Aber jede Pflanze hat ihren Wert. Wir kamen auf fast 6000. Einheimisch wären für Bayern etwa 3200 gewesen.
Einheimisch meint . . .
Meierott: Als Neophyt bezeichnen wir alle Arten, die nach der Entdeckung Amerikas 1492 bei uns aufgetreten sind. Aber in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten sind immer mehr Sippen neu angekommen.

Die Artenvielfalt nimmt zu? Was bedeutet das dann?
Meierott: Die Vielfalt wächst zum Beispiel an unaufgeräumten, "unschönen" Orten. An Autobahnen, an Bahnhöfen. Wesentlich ist, dass ein Großteil der einheimischen Arten zurückgeht und dann als gefährdet in den Roten Listen aufgeführt wird. Im Alpenraum ist vieles geschützt, in der Rhön noch vieles intakt. Aber Landwirtschaft, Flächenversiegelung – in vielen Regionen geht der Rückgang weiter. Ich bin 50 Jahre lang draußen rumgelaufen. Inzwischen existieren Wuchsorte nicht mehr, bemerkenswerte Arten sind nur noch in Kleinstpopulationen zu sehen – wenn man überhaupt noch das Glück hat.
Darf man einen Botaniker fragen, wo es ihm am besten gefällt?
Meierott: Bayern hat viele schöne Ecken. Unterfranken ist auch recht vielfältig. Mir gefällt es in der Rhön, mir gefällt es auf den Sandfluren und Halbtrockenrasen um Karlstadt und in den Haßbergen.

Und jetzt ist die neue Flora heraus – wie geht's weiter? Was machen Sie jetzt?
Meierott: Erst mal bin ich froh. Ich war am Schluss fünf Jahre ununterbrochen, ohne Urlaub, dagesessen und habe daran gearbeitet. Ich habe 40.000 Herbar-Belege, die Hälfte liegt noch hier bei mir in Gerbrunn herum. Und ich hoffe, dass ich noch einige Jahre Leben habe, dass ich sie noch durchsehen und etikettieren kann, dass sie dann auch nach München in die Staatssammlung kommen.
Die neue "Flora von Bayern"In der "Flora von Bayern" ist der aktuelle Kenntnisstand über die Farn- und Blütenpflanzen Bayerns von der Rhön bis ins Allgäu dokumentiert. Die vier schweren Bände sind eine gemeinsame Veröffentlichung der Bayerischen Botanischen Gesellschaft, des Bayerischen Landesamtes für Umwelt (LfU), der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns (SNSB) und der AG Flora von Bayern.Dem Werk ging eine intensive Erfassung, Kartierung und Dokumentation der Pflanzenwelt über mehr als 50 Jahre voraus. Über 200 Ehrenamtliche und viele Auftragskartierer haben in ganz Bayern mitgearbeitet. Insgesamt wurden 15,9 Millionen Beobachtungsdaten erhoben. Von den 5886 nachgewiesenen Pflanzensippen sind 3065 einheimisch. 1955 Arten sind nach 1492 in Bayern eingewandert oder eingeschleppt worden. Von diesen Neophyten sind 380 mittlerweile fest in Bayern heimisch, 208 mit Tendenz zur Einbürgerung. Von den 3065 einheimischen Pflanzenarten sind 82 ausgestorben (2,5 %). 88 Pflanzenarten (2,7 %) sind endemisch für Bayern: Sie kommen weltweit nur hier vor.Publikation: Meierott, L., Fleischmann, A., Klotz, J., Ruff, M., & Lippert, W. (2024): Flora von Bayern. Haupt-Verlag, Bern, 2880 Seiten, 158 Euro.nat