Die Auswirkungen von Corona auf Kinder waren während der Pandemie immer wieder Thema in der Öffentlichkeit. Doch auch Jugendliche und deren individuelle Probleme sollten Beachtung finden, findet Professor Marcel Romanos, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg. Warum er eine Entschlackung der Lehrpläne fordert und welche Rolle er der Fridays-For-Future-Bewegung beimisst.
Frage: Welche besonderen Probleme haben sich für Jugendliche durch Corona ergeben?
Prof. Marcel Romanos: Auf der einen Seite ist da der Leistungsaspekt: Haben Jugendliche durch die veränderten Umstände Schwierigkeiten, die Dinge zu lernen, die sie lernen sollten? Auf der anderen Seite spielt der soziale Aspekt eine große Rolle: Freundschaften außerhalb der Familie und erste Beziehungen werden im Jugendalter immer wichtiger. In dieser Hinsicht haben viele unter den Beschränkungen wegen Corona gelitten. Auch die Situation der Studierenden ist schwierig: Es gibt Drittsemester, die noch nie an ihrem Studienort waren. Andere sind zwar vor Ort, kennen aber niemanden, da Kennenlern-Treffen nicht möglich waren. Für sozial eher ängstliche oder schüchterne Menschen ist es unter solchen Umständen äußerst schwierig, Anschluss zu finden und nicht zu vereinsamen.

Von welchen Faktoren hängt es ab, wie Jugendliche durch diese Zeit kommen?
Romanos: Jugendlicher ist nicht gleich Jugendlicher. Je privilegierter, gesünder und besser integriert jemand vor Corona war, desto besser ist er oder sie durch die Zeit gekommen. Diejenigen, die vorher schon sozial benachteiligt waren, psychische Erkrankungen, Ängste und Depressionen hatten, die schüchtern oder schlecht integriert waren, hatten in der Pandemie eine zusätzliche Bürde. In der Jugend sind diese Probleme viel ausgeprägter als etwa bei Kindern, weil in diesem Alter die Orientierung aus der Familie heraus immer mehr in den Mittelpunkt rückt – mit Berufsfindung, selbstständiger Lebensführung, dem Aufbau einer Beziehung. Aber: Das, was uns eigentlich droht, ist die Zeit nach der Pandemie. Die kritische Phase kommt erst noch.
Inwiefern?
Romanos: Jetzt kommt die Frage auf: Wie wird das Versäumte nachgeholt? Schule war für Kinder schon vor der Pandemie anstrengend und ein großer Belastungsfaktor. Zwei Wochen nach Schulbeginn sind unsere Stationen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie immer voll. Wenn wir jetzt wieder in den regulären Schulbetrieb zurückkehren, steigen die Belastungen auf den alten Umfang an; dazu kommen eventuell noch Nachhilfe und Förderunterricht. Es ist nicht realistisch, dass Kinder das packen und dabei gesund bleiben.
Was wäre dann der richtige Umgang mit der Situation?
Romanos: Wir sollten uns im Nachgang der Pandemie sehr am Befinden der Kinder und Jugendlichen orientieren und unbedingt vermeiden, dass sie in die Überforderung geraten, nur weil wir jetzt mit aller Macht versuchen, das Versäumte in ihre Köpfe hineinzupressen. So etwas führt mit absoluter Sicherheit zu psychischer Erkrankung.
Wie könnte die Rückkehr zum Alltag aussehen?
Romanos: Was wir jetzt brauchen, ist eine Entschlackung der Lehrpläne. Was sind die wichtigen Inhalte, welche können wegfallen? Wir brauchen Verständnis dafür, was Kinder leisten können – sie sind ja schon im regulären Schulbetrieb ganztags beschäftigt. Wenn dann noch ein Verein oder ein Instrument dazu kommt, ist jeder Tag von morgens bis abends knallvoll. Wir sollten hinnehmen, dass wir jetzt eine Generation haben, die durch Corona manche Inhalte nicht in voller Breite vermittelt bekommen hat. Ich glaube nicht, dass das insgesamt fürs spätere Leben der Kinder abträglich ist.

Die jetzige junge Generation ist also keine "verlorene Generation"?
Romanos: Nein, ist sie nicht. Wir leben in einem hochzivilisierten, hochentwickelten Land, mit sehr vielen Ressourcen, viel Geld, einer tollen Infrastruktur. Selbst unter Corona-Bedingungen geht es unserer Jugend in vielerlei Hinsicht besser als der in zahlreichen anderen Ländern auf diesem Planeten. Ich will die Situation nicht verharmlosen, die Belastungen sind real. Aber für die Behauptung, unsere Kinder und Jugendlichen hätten durch die Lockdowns und Einschränkungen einen Schaden fürs Leben erlitten, gibt es weder eine wissenschaftliche noch eine logische Begründung. Kinder und Jugendliche haben viele Kompensations- und Anpassungsmechanismen, sie werden das schaffen.
Hat Corona und der Umgang der Regierung damit den Jugendlichen gezeigt, dass sie in unserer Gesellschaft keine große Rolle spielen?
Romanos: Dieses Gefühl hatten nicht nur die Jugendlichen. In den einzelnen Phasen der Pandemie kam auf verschiedensten Seiten das Gefühl auf, dass nicht genug auf sie geschaut wird. Wir nehmen in den vergangenen Jahren eher wahr, dass Jugendliche mehr Gehör bekommen, zum Beispiel durch die Fridays-For-Future-Bewegung. So gibt es etwa in den Niederlanden mittlerweile Urteile, durch die Firmen wie Shell verpflichtet werden, für durch CO2-Ausstoß verursachte Schäden aufzukommen. Das ist auch Ergebnis dessen, dass die junge Generation die Hand hebt und sagt: "Ihr könnt nicht so weitermachen, ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen das für unsere Zukunft hat." Was wir zusätzlich bräuchten, ist eine Normenkontrolle, die prüft, inwiefern sich politische Entscheidungen auch mittel- und langfristig auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien auswirken.
Gibt es einen Raum für diese Themen? Die Pandemie hat vieles dominiert und wird uns noch eine Weile beschäftigen.
Romanos: Ich glaube schon. Die Klima-Bewegung hat eine gesamte Generation geprägt; aus einigen dieser Jugendlichen werden Entscheidungsträger. Jugendliche heute haben gesehen, wie schnell der CO2-Ausstoß im ersten Lockdown heruntergegangen ist und die Luftqualität besser wurde. Sie haben erlebt, dass man auf dem Planeten etwas verändern kann. Und: Das Thema Klima, das durch Fridays For Future erheblichen Auftrieb bekommen hat, steht jetzt in der politischen Agenda überall mit ganz oben.
Was wird bei den Jugendlichen von der Pandemie zurückbleiben?
Romanos: Was wir durch die Pandemie gelernt haben, ist, dass unsere gesellschaftliche Struktur und die gesamte Zivilisation verletzlich sind. Das prägt, und wir haben jetzt ein Bewusstsein dafür, dass in drei Jahren ein neuer Virus auftauchen kann. Falls dieser eine noch höhere initiale Mortalität haben sollte, können wir uns ausmalen, wie stark die Auswirkungen auf die Menschheit sein könnten. Wir Erwachsene konnten uns das bisher kaum vorstellen. Bei Kindern und Jugendlichen ist dies nun schon sehr viel früher ins Bewusstsein gedrungen.
Online-Veranstaltung am 14. Juni Prof. Marcel Romanos spricht am 14. Juni um 16 Uhr im Rahmen der Online-Veranstaltung "Wie umgehen mit psychischen Belastungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die Corona-Pandemie?" des Arbeitskreises Schule-Wirtschaft zum Thema. Interessierte können sich im Vorfeld unter kommunikation@sparkasse-mainfranken.de anmelden. Quelle: cat