Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Würzburg
Icon Pfeil nach unten
Stadt Würzburg
Icon Pfeil nach unten

WÜRZBURG: Karl Marbes riskante Schrift: Entdeckung im Keller

WÜRZBURG

Karl Marbes riskante Schrift: Entdeckung im Keller

    • |
    • |
    Psychologieprofessor Armin Stock suchte jahrelang nach dem Nachlass von Karl Marbe. Als er ihn fand, stieß er auf ein unbekanntes, unveröffentlichtes Manuskript voller Brisanz.
    Psychologieprofessor Armin Stock suchte jahrelang nach dem Nachlass von Karl Marbe. Als er ihn fand, stieß er auf ein unbekanntes, unveröffentlichtes Manuskript voller Brisanz. Foto: Foto: Thomas Obermeier

    Niemand hat eine kritiklose Begeisterung für den Krieg geschickter und erfolgreicher in die Wege geleitet als Adolf Hitler und sein Anhang. Er hat zunächst die beiden früher meist weit voneinander abgelegenen Ideale des Nationalismus und Sozialismus zu einem Kollektivideal, dem Nationalsozialismus vereinigt und dadurch für einen grossen Teil der Deutschen breite, bequeme Wege zum Eintritt in seine Partei geschaffen, mögen sie nun einst politisch rechts oder links gestanden haben. Hitler hat auch sofort eine grosszügige Reklame zugunsten seiner Partei inszeniert, wie sie bisher weder in der Politik noch im Geschäftsleben jemals erreicht oder auch nur versucht wurde.“

    * * *

    Als diese Zeilen geschrieben wurden, war Adolf Hitler noch an der Macht. Noch war das Dritte Reich nicht untergegangen, noch blühte die Diktatur und Gegner, Kritiker verfolgte man gnadenlos. Der Mann, der diese Zeilen schrieb, saß am Judenbühlweg 7 in Würzburg und war sich der Gefahr bewusst. Seine Frau war Halbjüdin, er selbst bekannter wie vermögender Wissenschaftler. Was für ein Risiko, in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft solche Sätze zu notieren: „ (.

    . .) der Nationalsozialismus hat es nicht nur verstanden, für seine Ideen durch eine zugkräftige Propaganda Sympathien zu erwerben, sondern auch systematisch jeden, der nicht mit ihm ging, einfach zu vernichten.“

    Als wenig später Adolf Hitler tot und das Dritte Reich vernichtet war, verfasste Professor Karl Marbe das Vorwort: „Diese Schrift wendet sich nicht an irgendwelche Fachleute, sondern an die breiten Massen der zivilisierten Welt.“ Er wolle „diesen Wahn, der uns die beiden Weltkriege und das Elend gebracht hat“ in seinem Beitrag „in gemeinverständlicher Weise erörtern“. Und wolle versuchen, „Wege anzudeuten, die dem vernünftigen Denken und Handeln der Menschen günstig und den Kriegen abträglich sind“. Er könne „etwas Erschöpfendes“ in seiner kleinen Schrift „natürlich nicht bieten“, schreibt Marbe. Denn: „Sie war längst vor dem Zusammenbruch des Hitlertums im Wesentlichen abgeschlossen, mußte jedoch aus Selbsterhaltungsgründen streng geheim gehalten werden.

    “ Die „Zeitgemäßen populären Betrachtungen für die kultivierte Welt – Von einem deutschen Gelehrten“ sind eine tief greifende Analyse der Mechanismen der Volksverführung. Sie blieben im Verborgenen, auch nach dem Krieg. Als Karl Marbe 1953 kinderlos starb, verschwand seine Schrift ungedruckt und unveröffentlicht im Nachlass. Und der galt als verschollen, war verloren geglaubt – 60 Jahre lang.

    Das Porträt Karl Marbes, das ihm im Alter von 40 Jahren zeigt, malte Seine Frau Milly Marbe-Fries 1909.
    Das Porträt Karl Marbes, das ihm im Alter von 40 Jahren zeigt, malte Seine Frau Milly Marbe-Fries 1909. Foto: A. Stock

    Marbe ist bekannt als Mitbegründer der Würzburger Schule der Denkpsychologie, als vielfältig tätiger Wissenschaftler und Entwickler verschiedener psychologischer Apparate und Methoden. Er war 1869 als Sohn eines deutschen Geschäftsmanns in Paris geboren, in Freiburg aufgewachsen, hatte erst Germanistik und dann in Freiburg, Bonn, Berlin und Leipzig Psychologie studiert. 1896 war Marbe nach Würzburg gekommen und hatte als Privatdozent an der Seite von Oswald Külpe das Würzburger Institut für Psychologie mit aufgebaut. 1905 wurde er an die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt berufen, wo er das Institut für Psychologie gründete. Ab 1909 bis zu seiner Emeritierung 1935 – so lang wie kein zweiter Psychologieprofessor seitdem – lehrte Marbe dann wieder in Würzburg, als Leiter des Psychologischen Instituts der Universität.

    Früh beschäftigte er sich mit massenpsychologischen Phänomenen, Gedankenlesen und Suggestion. Er entwickelte eine „Lehre der Gleichförmigkeit“ im Verhalten des Menschen, erforschte als einer der ersten Psychologen Werbung und Konsumentenverhalten. Er war Gerichtsgutachter, schrieb über die Urteilsfähigkeit und „Praktische Psychologie der Unfälle und Betriebsschäden“, zeigte, wie einfach es ist, Menschen mit Suggestivfragen zu manipulieren. Und er führte am Psychologischen Institut am Würzburger Röntgenring auch Untersuchungen für die Industrie durch – über Kölnisch Wasser 4711 zum Beispiel, über Geruch von Seifen, über Shampoo-Reklame, Tuben-Typen und über schäumende und nichtschäumende Zahnpasta.

    Wo aber war Marbes Nachlass? Mussten von diesem Gelehrten nicht noch Dokumente, Briefwechsel, Unterlagen erhalten sein? Armin Stock, Professor für Geschichte der Psychologie in Würzburg, trieb diese Frage viele Jahre lang immer wieder um. Das Psychologische Institut war am 16. März 1945 ausgebombt worden, auch die Universitätsbibliothek hatte keine Hinterlassenschaften in seinem Bestand. Aber bei den Recherchen zu einem Personenlexikon fiel Stock in einem älteren Buch eine Fußnote auf, in der von einem Nachlass Marbes die Rede war. Also musste es vom Begründer der Würzburger Denkpsychologie doch etwas geben.

    Beständiges Suchen, wiederholtes Umhören und schließlich der Zufall führten Stock, Leiter des Adolf-Würth-Zentrums für Geschichte der Psychologie der Universität Würzburg, im Frühjahr 2013 schließlich zum verloren geglaubten Nachlass Marbes. In einem Keller hatte er, verpackt in zwei Kartons, völlig unauffällig zwischen anderen Unterlagen in einem großen Schrank gelegen: Schulhefte von Marbe, Briefwechsel – und zur Überraschung ein unbekanntes, unveröffentlichtes Manuskript.

    „Ein wissenschaftshistorisch bedeutender Schatz“, sagt Armin Stock. Mindestens so überrascht wie über den Fund war er über den Inhalt, der sich ihm da erschloss: Karl Marbe hatte anhand historischer Beispiele in den späten Kriegsjahren eine hoch riskante, brisante Schrift über die Manipulation von Völkern verfasst. „Hätte die Gestapo sie bei ihm gefunden, wäre er zweifelsohne inhaftiert und Milly Marbe-Fries, seine jüdisch-stämmige Frau, in ein Konzentrationslager deportiert worden“, sagt Stock. Marbe selbst habe den Beitrag seine „verbotene Schrift“ genannt. „Selbst nach dem Krieg wollte er das Buch anonym publizieren.“

    Doch Marbe fand keinen Verlag, der seine „Zeitgemäßen Betrachtungen“ veröffentlichen wollte. Auch Kollegen rieten ihm ab.

    Für Stock wirft die Schrift viele Fragen auf: „Warum beispielsweise hat er sie erst so spät verfasst? Warum nicht schon, als sich das Unheil in den letzten Jahren der Weimarer Republik und den Anfangsjahren der NS-Zeit abzeichnete? Wieso ist er das Risiko in den späten Kriegsjahren eingegangen, als das Denunziantentum allgegenwärtig war?“ Durch die Ehe mit der Halbjüdin und Kunstmalerin Milly Marbe-Fries, von der er sich nicht hatte scheiden lassen wollen, durch seine 1932 erbaute, moderne Villa am Judenbühlweg und sein Vermögen sei der emeritierte Psychologieprofessor der besonderen Aufmerksamkeit der Behörden und der Missgunst mancher Würzburger ausgesetzt gewesen, sagt Stock. „Warum also sollte er ein solches Wagnis eingehen? Welche Ziele verfolgte er mit der für die breite Masse verfassten Schrift?“ Vielleicht sei es rein wissenschaftliches Interesse gewesen.

    Oder aber, fragt Stock, „wollte Marbe den Wiederanfang Deutschlands nach der Niederlage erleichtern, indem er die Mechanismen der Verführung erklärte, die Schuld der Masse verneinte und eine Perspektive für einen stabilen Frieden entwarf?“

    Zur eigenen Entlastung schrieb er die brisante Analyse sicher nicht. Im Frühjahr 1935 hatte der Psychologieprofessor Anteil daran gehabt, dass Leo Trepp als letzter jüdischer Student in Würzburg seine Doktorarbeit abschließen konnte. Marbe sprang als Nebenfachprüfer ein, als das Promotionsverfahren zu scheitern drohte. Und er lud Trepp ausdrücklich zu sich ins Institut zu einer Feier des Rigorosums ein. Politisch habe sich Marbe bis dahin nie betätigt, erzählt Stock.

    Ob der Psychologe eine Veröffentlichung seiner Schrift noch zu NS-Zeiten plante, ist kaum zu klären. Hätte er es versucht, dann würden wir dies aus heutiger Sicht als einen Akt der Widerständigkeit interpretieren“, sagt Stock. Im Nachlass fand er eine Notiz Marbes zum Manuskript: „Nur bis S. 45 zensurgerecht.

    “ Die Kapitel über den Krieg, Kriegspropaganda und die Kritiklosigkeit der Menschen im Krieg „wären während des NS-Regimes nicht publizierbar gewesen“, sagt Stock. Auch nach dem Krieg suchte Marbe vergeblich einen Verlag für sein Buch. Die Situation sei „augenblicklich noch nicht geeignet“ wurde ihm geantwortet. Er möge doch seinen Plan „noch etwas aufschieben“. Das werde nur „seinem eigenen Interesse dienen“.

    Marbe schreibt über Lüge und Leichtgläubigkeit, über Reklame in der Politik, über kritiklose Gefolgschaft, Suggestion, Intellekt und über gegenwärtige „Massenerscheinungen, die man in der Zukunft schwer begreifen wird“. Jetzt wiederentdeckt, „musste das Manuskript einfach zugänglich gemacht werden“. Stock hat die „zeitgemäßen populären Betrachtungen“ erschlossen und als Faksimile mit Marbes handschriftlichen Korrekturen herausgegeben. Wenn es nach dem Krieg veröffentlicht worden wäre, ist sich der Psychologieprofessor sicher, hätte Marbes Darstellung der Verführungsmechanismen „die Aufarbeitung des Geschehenen erleichtert“.

    Im August 1945 schloss der Psychologieprofessor die Überarbeitung seiner Schrift endgültig ab. „Interessant für die leichte und wandelbare Beeinflussbarkeit der Menschen ist übrigens auch die Tatsache, daß manche Deutsche, die einst mit den Nazis sympathisierten, dies ohne zu lügen, nach dem Zusammenbruch des Hitlertums mehr oder weniger vergessen haben“, schreibt er am Ende. „Der Mensch neigt eben allgemein dazu, das, was ihm unangenehm ist, leichter zu vergessen als das, was ihm angenehm ist.“

    Was passiert, wenn eine Grenze überschritten ist, wenn aus einer Gruppe eine Masse wird und wenn sich auch kritisch denkende, vernünftige Menschen des Drucks nicht mehr erwehren können? Für den Herausgeber ist Marbes Schrift noch immer aktuell: „Ein Werk, das zur Wachsamkeit mahnt.“ Marbe selbst schloss seine Betrachtungen vor sieben Jahrzehnten so: „Daß die Schrift in dem Augenblick, wo sie erscheinen kann und darf, ganz und gar auf der Höhe der Zeit steht, ist angesichts der Überstürzung der Ereignisse nicht möglich.“

    Erstveröffentlichung: Karl Marbe, „Zeitgemäße populäre Betrachtungen für die kultivierte Welt. Aus dem Nachlass eines deutschen Gelehrten“, hrsg. v. Armin Stock, Peter Lang Verlag Frankfurt, 168 Seiten, 49,95 Euro. Ein Teil der Verkaufserlöse geht an das Adolf-Würth-Zentrum für weitere historische Forschungen.

       
    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden