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WÜRZBURG: „Kreuze gehören nicht in den Gerichtssaal“

WÜRZBURG

„Kreuze gehören nicht in den Gerichtssaal“

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    Im Namen des Volkes? Religiöse Symbole – auch christliche Kreuze – sollten nach Ansicht des renommierten Würzburger Juristen und Rechtsphilosophen Eric Hilgendorf aus Gerichtssälen verschwinden.
    Im Namen des Volkes? Religiöse Symbole – auch christliche Kreuze – sollten nach Ansicht des renommierten Würzburger Juristen und Rechtsphilosophen Eric Hilgendorf aus Gerichtssälen verschwinden. Foto: Foto: Armin Weigel, dpa

    Nicht erst die jüngste Auseinandersetzung um eine Kopftuch tragende Studentin in Würzburg hat die Frage aufgeworfen: Ist der Rechtsstaat zunehmend durch kulturell-religiös bedingte Konflikte gefordert? Ja, und darauf sollten Juristen vorbereitet werden – findet Prof. Eric Hilgendorf, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Universität Würzburg. Wir sprachen mit dem promovierten Juristen und Philosophen, der vor neun Jahren das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) an der juristischen Fakultät begründet hat. Hilgendorf pflegt Kontakte mit Rechtswissenschaftlern aus aller Welt.

    Frage: Herr Prof. Hilgendorf, vor neun Jahren haben Sie das Projekt „GSiK“ initiiert. Was hat Sie damals dazu veranlasst?

    Prof. Eric Hilgendorf: Wir hatten Mittel aus den Studienbeiträgen zur Verfügung und waren auf das Problem gestoßen, dass es häufig kulturbedingte Konflikte gibt, bei deren Lösung Juristen versagen. Das Projekt „GSiK-Jura“ soll Jura-Studenten befähigen, Konflikte als kulturbedingt zu erkennen, zu analysieren und Lösungen zu finden – also nicht zu überreagieren, falsch zu reagieren, sondern interdisziplinär zu arbeiten etwa im Umgang mit Menschen aus dem asiatischen, arabischen oder dem afrikanischen Raum. Eine gewisse Fokussierung auf den Islam ergab sich erst im Laufe der Zeit.

    Beschreiben Sie doch mal beispielhaft einen solchen Konflikt…

    Hilgendorf: Ein typischer Fall aus dem Arbeitsrecht wäre ein interkulturell zusammengesetztes Team mit einer Arbeitsgruppe, die von einer Frau geleitet wird. Und in dieser Arbeitsgruppe befindet sich dann ein Mann aus der Türkei oder Syrien, der zwar sehr gut und engagiert arbeitet, aber emotional oder kulturbedingt Probleme hat, eine Frau als Chefin zu akzeptieren.

    Was schlagen Sie vor?

    Hilgendorf: In so einer Situation wäre es unpassend, sofort nach dem Arbeitsgericht zu rufen. Stattdessen sollte man andere Möglichkeiten des Entschärfens prüfen. Da ist mit der Chefin zu sprechen, vor allem aber mit dem betreffenden Mann. Ihm muss deutlich gemacht werden, dass Frauen in unserer Gesellschaft ganz selbstverständlich Leitungsfunktionen übernehmen und dass er hier kooperieren muss. Man kann dem Mann im Gespräch entgegenkommen. Ziel sollte aber sein, in einem solchen Kontext unsere Vorstellungen durchzusetzen.

    Kennen Sie solche Fälle aus der Praxis?

    Hilgendorf: Wir haben gewaltige Probleme – das geht über das Arbeitsrecht hinaus – bei Flüchtlingen, die nicht bereit sind, die Autorität von Richterinnen oder Polizistinnen anzuerkennen. Manche wenden sich lachend um, wenn eine Polizistin oder Richterin zu ihnen spricht. Das ist völlig inakzeptabel, wir bilden hier an der juristischen Fakultät zu 60 Prozent Frauen aus. In solchen Situationen muss unbedingt versucht werden, das geltende Recht durchzusetzen.

    Unterschiedlich herangehen je nach Situation?

    Hilgendorf: Ja, und Zwangsmaßnahmen sollten immer die letzte Option sein. Man sollte versuchen, die andere Seite zu verstehen. Das hilft Hebel zu entdecken, die helfen können, um den Konflikt zu entschärfen. Es gibt viele Möglichkeiten… Schulungsmaßnahmen oder Gespräche mit Eltern bei jüngeren Arbeitnehmern – und eben auch die Ausbildung von Juristen, so dass nicht gleich ein hartes Urteil wie eine Kündigung ausgesprochen wird. Ziel muss sein, den Konflikt auf einer niedrigeren Schwelle zu lösen.

    Ist hier tatsächlich der Jurist gefordert? Wäre es nicht eher der Sozialarbeiter?

    Hilgendorf: Gute Frage... Im Kern geht es darum, Juristen für den Einfluss von Sozialarbeitern, Psychologen, Kulturwissenschaftlern oder Theologen zu öffnen. Damit muss man schon in den ersten Semestern anfangen. Später schließen sich Studierende mehr ab. Und im Examen spielen solche Fragen keine Rolle mehr. Wir haben hierzu im Rahmen unseres Projekts sehr frühzeitig Workshops oder Gespräche mit Praktikern angeboten. Mittlerweile hat sich das GSiK-Projekt auf die ganze Uni ausgedehnt.

    Welche Themen haben Sie vor Augen, für die Sie Ihre heranwachsenden Juristen sensibilisieren wollen?

    Hilgendorf: Denken Sie an das Schächten von Tieren, an die Frage der Beschneidung, das Tragen eines Kopftuches oder einer Burka. Im schlimmsten Fall könnte es um einen Ehrenmord gehen. Das Spektrum möglicher Probleme ist sehr breit. Vergangene Woche haben wir mit 40 Israelis darüber diskutiert.

    Auch über das Thema Beschneidung…?

    Hilgendorf: Natürlich. In Israel wird die Beschneidung von Jungen vor dem dort gegebenen religiösen Hintergrund akzeptiert, die Beschneidung von Mädchen ist aber verboten. Das führt zu einer Ungleichbehandlung der Geschlechter. Bei männlichen Kindern fehlt bei uns in Deutschland ein Straftatbestand der Verstümmelung. Solche Fragen sorgen für sehr viel Gesprächsbedarf. Auch die Rechtspolitik ist gefordert, um das Strafrecht zu modifizieren.

    In welche Richtung?

    Hilgendorf: Ich glaube, dass grundsätzlich das geltende Recht ausreicht. In einigen Bereichen muss aber nachgebessert werden. Wir sollten Kulturvorstellungen aus anderen Teilen der Welt nicht zu stark entgegenkommen. Der Grund für die Flucht vieler Menschen ist ja gerade, dass sie mit Gewohnheiten oder Traditionen in ihrem Umfeld nicht mehr einverstanden sind. Andererseits können manche Veränderungen bei uns erforderlich sein.

    Woran denken Sie da?

    Hilgendorf: Beispielsweise das Kreuz im Gerichtssaal (rechtlich dem jeweiligen Gerichtsleiter überlassen, Anm. d. R.). Es stellt Menschen, die einer anderen Religion angehören, manchmal vor Probleme. Das Urteil wird im Namen des Volkes gesprochen und nicht im Namen einer bestimmten Religion. Es spricht viel dafür, dass hinter dem Richter kein Kruzifix, sondern ein staatliches Wappen hängen sollte oder ein Bild des Bundespräsidenten. So ist es in den meisten Ländern. Das Kruzifix wird von Moslems als religiöses Zeichen teilweise überinterpretiert und führt dann leicht dazu, dass ein Urteil nicht mehr vollständig anerkannt wird. Hier sehe ich Änderungsbedarf.

    Für die Schulen wurde die Kruzifix-Frage kontrovers diskutiert…

    Hilgendorf: Richtig. Ich meine allerdings, dass in Schulen das Kreuz als Symbol einer gewissen Kulturtradition noch vertretbar sein kann. Im Gerichtssaal aber spricht die Richterin oder der Richter für den deutschen Staat und nicht für eine bestimmte Religion. Meines Erachtens hat das Kreuz sogar negative Effekte auf Menschen, meistens junge Männer, die sich nur noch über ihre Religion definieren und dann mit dem Symbol einer anderen Religion konfrontiert werden. Die Chance, dass sie ein solches Urteil akzeptieren und daraus lernen, wird damit stark verringert.

    Denken Sie, es bräuchte auch einen speziellen Rechtskundeunterricht für Migranten?

    Hilgendorf: Hier wurde ja nach dem Zuzug der vielen Flüchtlinge gut reagiert – es gab Kurse für Migranten, aufklärende Broschüren, übersetzt ins Arabische. Das war genau der richtige Weg. Man sollte ihn jetzt nur weitergehen. Die Menschen bleiben hier, haben Familien und Kinder – hier müsste eine Werteerziehung stattfinden, wie sie derzeit in den Schulen nicht angeboten wird. Der Religionsunterricht ist religionsspezifisch.

    Was ich darüber hinaus für absolut wichtig halte, ist ein verpflichtender Werteunterricht für alle. Darin wäre über Frauenrechte zu reden, über Toleranz gegenüber Andersdenkenden, gegenüber Homosexuellen, über Atheismus… Leider sind hier die Kirchen noch skeptisch. Dabei könnte bisherige Religionsunterricht neben dem Werteunterricht bestehen bleiben.

    In Berlin wurde ein solcher Werteunterricht eingeführt, gegen Widerstände…

    Hilgendorf: Ausgangspunkt war der Fall von Hatun Sürücü 2005. Er ist sozusagen der Leitfall für diese Debatte. Die 18-jährige türkischstämmige Frau wurde damals von ihrem jüngeren Bruder ermordet, weil sie sich von ihrer Familie losgesagt hatte, um der Zwangsverheiratung zu entgehen. Der Bruder wurde verurteilt. Aber das Schlimme war der Applaus von vielen Jugendlichen türkischer Abstammung für diese Tat. Darauf hat der Berliner Senat – gegen Widerstand der evangelischen Kirche – den verpflichtenden Werteunterricht an Schulen eingeführt.

    Schreitet der von Samuel Huntington in den 90er Jahren beschriebene „Kampf der Kulturen“ fort?

    Hilgendorf: Ich glaube, es gibt einen „Zusammenprall“ von Kulturen, Huntington hat ja auch von einem „clash“ gesprochen. Einen solchen Zusammenprall haben wir und müssen intelligent damit umgehen, so dass er nicht in harte Konflikte ausartet. Ich sehe keine prinzipielle Unvereinbarkeit: Die Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur oder anderen Religion ist per se kein zwingendes Argument gegen eine gelingende Integration. Religionen können unterschiedlich intensiv gelebt werden. Ein radikaler Christ kann genau so unangenehm sein wie ein radikaler Moslem. Es geht darum, eine gewisse Form des religiösen Übereifers oder Fanatismus zu begrenzen. Ich sehe übrigens auch im islamischen Bereich einen starken Trend zur Säkularisierung und Modernisierung.

    Wie weit sollte sich die westliche Kultur öffnen?

    Hilgendorf: Es geht wohl vor allem um eine größere Zurückhaltung der westlichen Länder gegenüber anderen Kulturkreisen. Zum Beispiel muss man religionskritische Darstellungen extremer Art, die man im arabischen Umfeld als anstößig empfindet, nicht zwingend weltweit über das Internet verbreiten. Wir Juristen sehen sehr wohl auch Grenzen von Satire. Das Gedicht von Herrn Böhmermann war durchaus problematisch. Andererseits sind die Meinungs- und Kunstfreiheit sogar grundrechtlich geschützt. Hier verbergen sich viele Probleme, die intensiver diskutiert werden müssen, als es bisher geschehen ist.

    Hat Ihr interkulturelles Projekt mit der verstärkten Migration der vergangenen Jahre noch an Bedeutung gewonnen?

    Hilgendorf: Das Projekt hat sich als sehr wichtig und zukunftsweisend herausgestellt, mittlerweile gibt es an vielen Universitäten ähnliche Versuche. Was immer noch fehlt, ist der ehrliche Wille der Politik, diese Fragen in der Juristenausbildung zu verorten. Juristen müssen unglaublich viel lernen, die Lehrbücher werden immer umfangreicher. Aber der kulturelle Problembezug fehlt nach wie vor. Ich meine so etwas wie einen verpflichtenden Kurs in interkultureller Kompetenz.

    Da können zwei Wochenstunden über ein Semester schon ausreichen, um bestimmte Fälle zu analysieren – außerhalb einer Gerichtssituation, um Vorurteile abzubauen.

    Das heißt, hier bewegt sich die juristische Lehre zu sehr am Gesetz und zu wenig an der Lebenswirklichkeit?

    Hilgendorf: Genau so. Die Juristenausbildung ist zu sehr dogmatisch orientiert. Es wäre wichtig, mehr praktische Erfahrungen und soziologische Erkenntnisse einfließen zu lassen.

    Mit ihrem Projekt versuchen Sie das…

    Hilgendorf: Ja, wir haben eine eigene Homepage, dazu mehrere Veranstaltungen pro Semester, die über das rein Juristische hinausgehen. Auch Vortragende aus dem Ausland laden wir ein und stellen Begegnungen zwischen Studierenden her. Wir hatten schon einen Referenten aus Istanbul, der über Fragen der Meinungsfreiheit gesprochen hat. In einer anderen Veranstaltung haben junge Frauen das Für und Wider des Kopftuches diskutiert.

    Wie bewerten Sie den zuletzt heiß diskutierten Fall aus der hiesigen Politikwissenschaft?

    Hilgendorf: Natürlich hat jede Studentin das Recht, ein Kopftuch zu tragen. Das kann man genauso wenig verbieten wie das Tragen eines Kreuzes. Ob jemand mit Kopftuch als Richterin oder Hochschuldozentin arbeiten kann, ist eine ganz andere Frage. Wir haben auch in unseren Veranstaltungen Studentinnen mit Kopftuch, das stört mich und auch die anderen Studierenden nicht. Allerdings darf religiöse Überempfindlichkeit die Lehre nicht beeinträchtigen. Und natürlich wäre eine Vollverschleierung in Vorlesungen oder gar in Prüfungen nicht hinzunehmen – aber einen solchen Fall hatten wir noch nicht.

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