„Sexueller Missbrauch vor allem an Kindern und Jugendlichen ist eine verabscheuungswürdige Tat. Dies gilt besonders, wenn Kleriker oder Ordensangehörige sie begehen“, heißt es in den „Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger“ der Deutschen Bischofskonferenz von 2010. „Die Täter fügen der Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Sendung schweren Schaden zu. Es ist ihre Pflicht, sich ihrer Verantwortung zu stellen.“
„Die Leitlinien sind vor sechs Jahren mit der Zielsetzung geschaffen worden, Transparenz zu unterstützen“, sagt der Kriminologe und Strafrechtsprofessor Klaus Laubenthal, Missbrauchsbeauftragter im Bistum Würzburg. Diese Transparenz ruhte laut Laubenthal auf zwei Säulen: Auf der Möglichkeit, externe und damit unabhängige Missbrauchsbeauftragte – wie ihn – zu ernennen sowie auf der prinzipiellen Mitteilungspflicht für alle Mitarbeiter im kirchlichen Dienst, den Missbrauchsbeauftragten über Hinweise auf sexuellen Missbrauch zu informieren. Bereits im Jahr 2013 wurden die Leitlinien reformiert. Klaus Laubenthal weist auf entscheidende Änderungen gegenüber 2010 hin. „Sie sind weitgehend unbemerkt geblieben“, bemerkt er. „Säule eins blieb bestehen, Säule zwei wurde weitgehend eingerissen.“
Das heißt: „Nach den Leitlinien 2013 haben kirchliche Mitarbeiter nur noch eine Pflicht, schnellstmöglich die zuständige Person der Leitungsebene der Institution zu informieren.“ Also den Bischof oder den Generalvikar. Sie können, müssen sich aber nicht mehr mit ihren Hinweisen an den Missbrauchsbeauftragten wenden – „nur dann, wenn Gefahren für Leib und Leben drohen oder wenn weitere Opfer betroffen sein könnten“, so Laubenthal.
Dass die Transparenz reduziert wurde, zeige sich nicht nur im Wortlaut der Leitlinien von 2013, sondern ist auch der allgemeine Eindruck im Kreis der Missbrauchsbeauftragten. „Ich selbst habe aber im Bistum Würzburg den Eindruck, dass die kirchlichen Mitarbeiter eher geneigt sind, mir so etwas mitzuteilen.“ Dennoch sieht Professor Laubenthal eine Gefahr: „Wenn man ein Gebäude auf zwei Säulen stellt und eine Säule weitgehend einreißt, dann weiß man, dass die Gefahr nicht fern liegen könnte, dass eben die ganze Konstruktion zusammenbricht.“
Nun ist Klaus Laubenthal mit einem Fall konfrontiert, in dem er sich über die Erkenntnisse und den Beschluss des Kirchengerichts, auf die er keinerlei Einfluss hat, wundert. Es liegen für ihn bei Alexandra Wolf (siehe oben stehendes Interview) Indizien vor, dass das, was die Frau ihm im Januar 2014 schriftlich mitgeteilt hat, „erlebnisbasiert“ ist, „also auf einer tatsächlichen Grundlage beruhen kann“. Demnach liegt seinen Worten zufolge eine gewisse Wahrscheinlichkeit vor, dass Alexandra Wolf 1988 sexuell genötigt wurde. Nach heutigem Recht heißt das: Vergewaltigung. Alexandra Wolf beschuldigt den Vorgänger von Klaus Laubenthal als Missbrauchsbeauftragten, sie im Exerzitienhaus Himmelspforten in einem Besprechungszimmer zum „Oralverkehr“ gezwungen zu haben.
Auch die Aussagen des Beschuldigten sind für Laubenthal Indizien dafür: „Wenn man sich nach mehr als zwei Jahrzehnten an die Farbe eines Kleides erinnern will im Zusammenhang einer Tagung mit zig Personen, aber nicht an die Bekleidung eines anderen Tagungsteilnehmers, und dazu keinen einzigen Namen nennen kann, wer noch an dieser Tagung teilgenommen hat, dann denke ich, ist es angebracht, stutzig zu werden.“
Zwar sei damals die Würzburger Bistumsleitung seiner Anregung gefolgt und habe eine kirchenrechtliche Untersuchung eingeleitet und das Kirchengericht in Person von Prälat Lorenz Wolf im Bistum München und Freising damit beauftragt. Dessen Abschlussbericht kann Laubenthal jedoch nicht folgen. „Wenn im Münchner Verfahren ein psychiatrischer Gutachter – vereinfacht ausgedrückt – sagt: Es kann sein, aber auch nicht, dass ein sexueller Missbrauch vorliegt, dann sehe ich einen krassen Widerspruch zu dem Ergebnis des Kirchengerichts, das sagt, es war höchst unwahrscheinlich.“ Nun hat die weltliche Justiz, die Würzburger Staatsanwaltschaft, nachdem sie an Ostern in der aktuellen Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ Kenntnis von dem Fall erhalten hat, mit Ermittlungen begonnen.
Darüber hinaus könnte der neue Fall im Bistum Würzburg weitere Kreise ziehen: Klaus Laubenthal verfolgt Hinweise auf ein mögliches weiteres Missbrauchsopfer des Geistlichen.