Die Achtjährige weiß genau, was sie werden will: erst Erfinderin, dann Ärztin. Erfinden steht an erster Stelle. „Damit es wieder so wird wie früher“, sagt Anabel. Das ist ihr größter Wunsch. Er geht wohl nicht Erfüllung.
Anabel ist acht Jahre alt. Ihre Sätze klingen nicht ihrem Alter entsprechend. Sie drehen sich um existenzielle Dinge. Der Grund heißt Leander. Das ist ihr fünfjähriger Bruder. Anabel ist gesund. Leander hat eine unheilbare, lebensverkürzende Erkrankung. Eine seltene dazu. Mukopolysaccharidose heißt sie, kurz MPS genannt.
Anabel ist sich sicher: Wenn sie nicht innerhalb der nächsten Jahre etwas erfindet, dann ist es zu spät. Wenn sie aber etwas erfindet, das die Stoffwechselerkrankung ihres Bruders stoppen oder sogar heilen könnte – „und wenn Leander dann noch am Leben ist“, hofft Anabel, „dann könnte ich ihm erzählen, was ich alles mit ihm erlebt – und durchgemacht habe“, fügt sie mit einem traurigen Lächeln hinzu.
Als Leander zweieinhalb Jahre alt ist, hört er auf zu sprechen
Leander konnte einmal „Mama“ und „Papa“ sagen, erzählen seine Eltern Michaela und Thomas Fritz. Insgesamt lernt er 20 Wörter. Als er zweieinhalb Jahre alt ist, hört er auf zu sprechen. Früher hat er mit seiner Schwester gespielt, gelacht, auf sie reagiert, sie erkannt, auf seinen Vornamen gehört. Das ist vorbei.
„Er kommuniziert nicht mehr“, sagt seine Mutter. „Er lebt in seiner eigenen Welt, wir wissen nicht, was in seinem Kopf vorgeht. „Er zeigt autistische Züge“ versuchen die Eltern das Verhalten ihres Sohnes zu beschreiben, die Auswirkungen seiner Erkrankung bezeichnen sie als „kindliche Demenz“.
Ohne Hoffnung auf ein schönes Leben
All das schwebt wie eine dunkle Wolke über der Familie. „Er ist ein Kind, das geboren wurde ohne Hoffnung auf ein schönes Leben – aus unserer Perspektive“, sagt Leanders Vater, Redakteur dieses Medienhauses. Wie lange wird er sich noch bewegen, noch laufen, greifen, schlucken können? Wie lange wird er seine Umgebung noch erkennen? Wie lange wird er leben?
Jede Veränderung wird genau beobachtet. Als Leander im Garten nicht auf die von ihm heiß geliebte Rutsche will, befürchten die Eltern, dass er nicht mehr in der Lage ist, die Leiter hinaufzusteigen. „Das kann von heute auf morgen geschehen“, sagt Michaela Fritz. Aber nach ein paar Tagen ist alles wieder beim Alten. Er rutscht wieder. Die Erleichterung ist groß über die kleinen Freuden seines Lebens.
Seltene genetische Erkrankung
MPS ist eine seltene genetische Erkrankung. Es gibt mehrere Typen. Leander hat MPS Typ II: Morbus Hunter, benannt nach einem schottischen Arzt. Er hat dieses Krankheitsbild zuerst beschrieben. Es tritt nur bei Jungen auf, etwa 80 sind in Deutschland davon betroffen.
MPS gehört zu den lysosomalen Speicherkrankheiten. Das Lysosom ist ein wichtiges kleines Organ (Organelle) innerhalb der Zellen. Stark vereinfacht ausgedrückt: Die kleinen kugelförmigen Gebilde bauen zelleigene sowie zellfremde Substanzen ab. Deshalb wird das Lysosom auch als „Magen der Zelle“ beschrieben. Es entsorgt also Giftstoffe und ermöglicht, dass zelleigene Stoffe beim Tod einer Zelle wiederverwendet werden können. Dazu benötigt das Lysosom ein bestimmtes Enzym. Ist die „Verdauung“ defekt, kommt es zu Einlagerungen, die sich schädlich auswirken. Die Folge sind schwere Entwicklungsstörungen.
„Gemeinsam Hoffnung geben“
„Allen MPS-Erkrankungen ist gemeinsam, dass ein Stoffwechselenzym nicht oder nicht ausreichend vorliegt“, lautet die Beschreibung der Gesellschaft für Mukopolysaccharidosen in Aschaffenburg. Sie informiert und hilft betroffenen Familien. Ihr Slogan: „Gemeinsam Hoffnung geben“. Und Unterstützung. Die brauchen Betroffene.
„Es tut einfach weh“, sagt Michaela Fritz, „dass für eine Erkrankung, nur weil sie selten ist, nicht so viel dafür getan wird.“ Leanders Eltern möchten ein größeres Bewusstsein in der Gesellschaft für die „Waisen der Medizin“ schaffen. Und dies nicht nur am Internationalen Tag der Seltenen Erkrankungen. Eigentlich ist er auf den 29. Februar terminiert, den es ja bekanntlich nur alle Schaltjahre gibt. In diesem Jahr findet er deshalb am 28. Februar statt.
„Forschen hilf heilen!“
Organisationen wie „Achse“ (Allianz chronischer Seltener Erkrankungen) und Selbsthilfegruppen versuchen an diesem Tag die Aufmerksamkeit auf die Belange von Betroffenen zu lenken. Heuer lautet das Motto: „Forschen hilft heilen!“ Es gibt jedoch nur wenige Wissenschaftler weltweit, die sich auf seltene Erkrankungen spezialisiert haben.
Auf den Alltag bezogen ist meist die Erfahrung: „Mit einem Kind mit einer seltenen Erkrankung wirst du alleine gelassen“, so Michaela Fritz. Für kleine Patienten mit anderen schweren Erkrankungen, etwa Krebs, gebe es ein Netz, in dem versucht wird, sie und ihre Familie aufzufangen. Neben einer zielgerichteten Therapie warten auch Beratungsgespräche und psychosoziale Angebote auf sie. „Wir müssen alles selbst erkunden.“
Leanders Mutter ist mittlerweile darin geübt. Wenn sie liest, dass für krebskranke Kinder und ihre Geschwister Ponyreiten angeboten wird, dann geht sie hin und sagt: „Mein Sohn ist auch sehr krank, darf seine Schwester mitmachen, auch wenn es nicht für sie gedacht ist?“
Besonders energisch wird Michaela Fritz, wenn Ärzte die Erkrankung ihres Sohnes eher beiläufig betrachten. Etwa, als ein Arzt sie im Krankenhaus bittet, ob er seinen Studenten die allergischen Reaktionen auf die Infusion erklären darf. Als er die angehenden Mediziner darauf hinweist, dass sie sich den Namen der Erkrankung nicht merken müssen, weil sie so selten ist, ist Leanders Mutter brüskiert. Sie sagt den Studenten, dass sie sich die seltene Erkrankung sehr wohl merken sollten, damit sie sich eines Tages erinnern, wenn sie ein Kind mit einer unklaren Diagnose vor sich haben. Vielleicht handelt es sich ja um Mukopolysaccharidose.
Je früher die Diagnose, desto besser
Wie bei allen Erkrankungen zählt auch bei den Seltenen: Je früher die Diagnose gestellt wird, desto besser. Die verschiedenen MPS-Typen sind zwar nicht heilbar, aber der Verlauf kann verzögert und abgemildert werden.
Bei Morbus Hunter gibt es zum Beispiel eine anerkannte Enzymtherapie. Durch sie haben betroffene Kinder die Chance, länger über ihre Fähigkeiten zu verfügen. Leanders Vater formuliert es plakativ: „Was kaputt ist, kann nicht mehr repariert werden.“ Abgestorbene Zellen im Körper und im Gehirn sind für immer verloren.
Obwohl Leanders Eltern schon bald Zweifel haben, ob mit ihrem Kind alles in Ordnung ist, dauert es lange bis zur Diagnosestellung. „Die Ärzte haben immer gesagt, er hat nichts.“ Es gebe keinen Zusammenhang zwischen seinem Hydrocephalus („Wasserkopf“) und seiner Hörschädigung. Die Eltern lassen sich immer wieder und gerne beruhigen. Aber sie sind zutiefst verunsichert.
„Die meisten Ärzte sind zu wenig geschult“, ist einer ihrer Kritikpunkte. Auch im Frühdiagnosezentrum der Universität Würzburg bleibt die Diagnose aus. „Wir können Ihnen nicht helfen“, dieser Satz ist den Eltern in Erinnerung geblieben. Ein Alternativmediziner gibt den besorgten Eltern als Erster den Hinweis, dass es sich um MPS handeln könnte. Nach den Urintests an der Klinik in Würzburg ist klar: Es ist MPS. Da ist Leander bereits über drei Jahre alt.
Abbau erlernten Fähigkeiten
Die Diagnose kommt spät, auch deshalb, weil sein Krankheitsverlauf progredient, also stark voranschreitend ist. Mit der Diagnose beginnt bei Leander schon wieder der Abbau der erlernten Fähigkeiten.
Heute fällt Außenstehenden auf den ersten Blick der unbändige Bewegungsdrang des Fünfjährigen auf und dass er ständig ein buntes Gummistück im Mund hat, das an einen Schnuller erinnert. „Er hat einen Kauzwang“, erklärt Michaela Fritz. Und: „Motorisch ist er unglaublich fit.“ Da er als typische Begleiterkrankung bei MPS unter Herzinsuffizienz leidet, hält er aber keine langen Wege durch.
Leander hat kein Gefahrenbewusstsein
Auf den zweiten Blick verwundert, dass der offene Wohn-Ess-Bereich der Familie Fritz dennoch Grenzen hat. Die Türen in die anderen Zimmer sind abgeschlossen, die Küche ist durch eine ebenfalls abschließbare Glasschiebetüre gesichert, damit Leander nicht die Schubladen ausräumt oder sogar Töpfe mit heißem Inhalt vom Herd holt. Denn er ist kräftig, besitzt aber kein Gefahrenbewusstsein. „Deshalb kann ich mit ihm auch nicht ohne Vorkehrungen das Haus verlassen.“
Nachts ist Leander oft über mehrere Stunden wach. Das kostet Kraft. „Momentan ist er relativ stabil“, freuen sich Leanders Eltern. „Wir wissen aber, dass das nicht so bleibt.“ Ständige Atemwegsbeschwerden gehören ebenfalls zum Krankheitsbild.
Meist schaut Leander etwas abwesend und sucht keinen Blickkontakt. Wenn er jedoch im Fernsehen einen Film mit dem Indianerjungen Yakari ansieht, dann lacht der Fünfjährige lauthals voller Freude. Sonst kaum.
Einmal in der Woche kommt ein Pfleger von „Healthcare at Home“ aus Aschaffenburg zur Familie Fritz. Er bereitet die Infusion mit Enzymen vor und zieht dem Jungen den Rucksack an, in dem sich das Medikament befindet. Vier Stunden lang dauert die Therapie. Da sie nur auf den Körper wirkt, aber die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann, ist ungewiss, wann der Kopf „sagt“: Jetzt ist es vorbei mit dem Herumlaufen, Rutschen, Fernsehgucken, mit dem Atmen . . .
Geschwisterarbeit für Anabel
Anabel sorgt sich sehr um Leander. Und sie unterdrückt ihre Bedürfnisse, weil sich das Familienleben um ihren mehrfachbehinderten erkrankten Bruder dreht. Die Eltern gehen mit ihr deshalb regelmäßig zur Geschwisterarbeit, ein Angebot des Sozialdienstes katholischer Frauen in Würzburg. „Anfangs hat sie nur geschwiegen, jetzt malt sie Bilder“, beschreibt ihre Mutter die Verarbeitungsmechanismen ihrer Tochter. Mit großen Ernst sagt Anabel: „Ich habe Angst, dass Leander vergisst, dass ich seine Schwester bin und dass ich ihn lieb habe.“
Selbsthilfe, Familienfest und Kunst „Gemeinsam Hoffnung geben“, so lautet das Motto der Gesellschaft für Mukopolysaccharidosen (MPS). Die Selbsthilfeorganisation hat ihren Sitz in 63739 Aschaffenburg, Herstallstraße 35, Kontakt: Tel. (0 60 21) 85 83 73. „Stark sein wie ein Ritter“: Zu diesem Thema veranstaltet die MPS-Gesellschaft zum Internationalen MPS-Tag am 20. Mai ein Fest für die ganze Familie. Im Schlosshof Aschaffenburg werden mittelalterliche Spiele, Aktionen und deftige Speisen angeboten. Dazu gibt es die Preisverleihung zum KinderKunst-Wettbewerb. Die Ideen zum Fest-Thema, egal, ob auf Papier gezeichnet, geformt in Lehm und Ton oder mit anderen Materialen gebastelt, können bis zum 30. April eingereicht werden. Informationen im Internet: mps-ev.de