Die Zahl der Krankentage ist deutlich gestiegen, eine Debatte um den Vorschlag, Lohnzahlungen am ersten Krankheitstag abzuschaffen, ist entbrannt. Den Vorwurf, die Arbeitnehmer machten massenhaft blau, wiesen Ärzte wie auch Krankenkassen zurück. Wie sieht es in Unterfranken aus?
Klar habe er manchmal das Gefühl, dass ein Patient schwindele, sagt Joachim Lentzkow, unterfränkischer Vorstandsbeauftragter der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) und Hausarzt mit eigener Praxis in Goldbach (Lkr. Aschaffenburg). Im Gespräch verrät der Mediziner, wie er mit Simulanten umgeht, wann Ärzte bockig werden und warum er Desinfektionsspender in Straßenbahnen kritisch sieht.
Frage: Herr Lentzkow, Sie sind seit mehr als 20 Jahren Hausarzt. Stellen Sie heute mehr Krankschreibungen aus als früher?
Joachim Lentzkow: Nein, aus meiner Sicht ist die Zahl nicht gestiegen. Ich stelle saisonal bedingt mal mehr, mal weniger Krankmeldungen aus. Im Moment rollt die Grippewelle durch Unterfranken, da ist es zum Beispiel mehr. Und sicher ist es grundsätzlich durch die telefonische Krankschreibung einfacher geworden, an eine Krankmeldung zu kommen.
Nutzen Patienten das aus? Sprich, machen die Unterfranken inzwischen häufiger blau?
Lentzkow: Ich glaube nicht, dass viele Menschen das ausnutzen. Außerdem darf ich nur diejenigen telefonisch krankschreiben, die ich kenne. Als Hausärzte fragen wir die Symptome ab und die Patienten schildern sie – das kann man telefonisch genauso machen, wie im direkten Gespräch. Wenn Patienten enorm leiden und erzählen, sie haben die ganze Nacht erbrochen, dann kann ich das schwer überprüfen. Ich muss das glauben. Natürlich kann ich in der Praxis untersuchen, abhören, an die Stirn langen, in den Hals und die Ohren schauen. Aber im Endeffekt reicht mir die Schilderung für die Krankmeldung – und dieses Vertrauen muss schon da sein.

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihnen jemand gegenübersitzt und schwindelt?
Lentzkow: Klar. Aber auch da habe ich als Hausarzt den Vorteil, dass ich die Patienten kenne. Wenn mir auffällt, dass sich jemand den dritten Montag in Folge krankmeldet, kann ich das artikulieren.
Sie sprechen das offen an?
Lentzkow: Ja und ich denke, das ist wichtig. Letztendlich geht es um den
der Patienten, sie verlieren im Zweifel ihre Stelle – aber als Hausarzt weiß ich, wie das weitergeht. Wenn gekündigt wird, geht es den Betroffenen schlecht und daraus können sich ganz andere Krankheiten entwickeln. Das möchte ich vermeiden.Dürften Sie es als Arzt eigentlich ablehnen, jemanden krank zu schreiben, eben weil er gesund ist?
Lentzkow: Das darf ich. Wenn ich sage, ein Patient ist nicht krank, dann stelle ich ihm die AU, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, nicht aus. Was allerdings nicht verhindert, dass er sie anderswo vielleicht bekommt.
Wie häufig nutzen Patienten denn die telefonische Krankschreibung?
Lentzkow: Im Moment telefoniere ich bestimmt zwölf Mal am Tag für eine Krankmeldung. Ich sage den Betroffenen meist: Okay, ich ziehe dich erstmal für drei Tage raus – aber wenn das nicht besser wird, komm' vorbei, dann schaue ich es mir gerne an. Für eine Folgekrankschreibung müssen Patienten also zu mir kommen. Das ist keine Gängelei, mir geht es nicht darum, ob mich ein Patient vorführt – sondern darum, dass ich im echten Krankheitsfall helfen kann. Das ist mein Job. Die Kontrolle nach drei Tagen soll verhindern, dass wir etwas verschleppen.
"Wir wollen nicht vorgeführt werden, da können auch wir bockig reagieren."
Hausarzt Joachim Lentzkow über Patienten, die simulieren
Haben Sie schon erlebt, dass jemand nach den drei Tagen sagt: Ach, am Freitag ist doch Brückentag und da wäre ich auch gerne noch krank?
Lentzkow: Das gibt es und auch Anfragen nach dem Motto, könnten Sie nicht noch das Wochenende mit dazu nehmen? Das lehne ich ab und das ist wichtig, sonst mache ich mich unglaubwürdig. Man bekommt als Arzt schnell den Ruf, der schreibt jeden krank.
Ist das Blaumachen ein Thema, das Ärzte umtreibt?
Lentzkow: Es ist ein Thema, wir diskutieren das und natürlich ist ein bisschen Trotz dabei. Wir wollen nicht vorgeführt werden, da können auch wir bockig reagieren.
Und was raten Sie Kollegen, wie man mit Blaumachern umgehen sollte?
Lentzkow: Ich finde, man muss direkt sein. Der Vorteil ist wie gesagt, dass ich als Hausarzt meine Leute kenne, auch meine Pappenheimer, auch die, die vielleicht in einer schwierigen Situation sind. Dann müssen und können wir darüber reden. Wenn der Job belastet, krank macht, dann sind wir plötzlich weit weg vom Blaumachen, dann geht es um seelische Erkrankungen. Die sind häufig. Und in solchen Fällen, wenn das Arbeitsverhältnis die Ursache für die Erkrankung ist, kann ich sogar dazu raten, den Job zu kündigen.

Sie haben es angesprochen: Psychische Erkrankungen nehmen zu. Woran liegt das?
Lentzkow: Das ist komplex. Viele Stellen sind derzeit unbesetzt, wer arbeitet steht oft unter hohem Druck und immer mehr Menschen haben existenzielle Sorgen. Hinzu kommt die Weltlage, die auf die Stimmung drückt. In Aschaffenburg hat der Messerangriff die Menschen mitgenommen. Und ich glaube, ehrlicherweise gilt auch: Angebot schafft Nachfrage.
Wie meinen Sie das?
Lentzkow: Nehmen wir zum Beispiel Long-Covid: Wenn alle darüber reden, lauscht man viel mehr in sich hinein. Das ist wie mit Horoskopen: Ich finde die Symptome für psychische Erkrankungen, ich finde die auch bei mir. Ich halte mich für stabil, habe Spaß am Leben und am Beruf – aber wenn das nicht so wäre und ich mir Sorgen um meine Existenz machen müsste und vielleicht noch eine überfordernde Familiensituation dazukäme, dann könnte die Stabilität kippen.
"Diese Fixierung auf Krankheit, Keime und Gefahren ist typisch deutsch und wir gehen damit schlecht um."
KVB-Beauftragter Joachim Lentzkow über Folgen der Pandemie
Hat die Pandemie da etwas verändert?
Lentzkow: Ja, die Pandemie hat das Krankheitsbewusstsein verändert. Wir sind sensibler.
Lässt sich das wieder einfangen?
Lentzkow: Nicht in unserer Generation. Solange Masken in Zügen getragen werden, solange der Händedruck nicht wieder gesellschaftsfähig ist und in jeder Straßenbahn ein Desinfektionsspender hängt, lässt sich das nicht wieder einfangen. All das macht das Bewusstsein einer Gefahr allgegenwärtig. Was man an den Fingern hatte, war früher kein Thema. Ich glaube, diese Fixierung auf Krankheit, Keime und Gefahren ist typisch deutsch und wir gehen damit schlecht um. Aus menschlicher und auch aus ärztlicher Sicht täte uns allen mehr Entspannung gut.