Neue Lehrkräfte in Bayern sind dringend gesucht – in Regelschulen wie in Förderschulen. Was aber, wenn Studierende nach ihrem Examen bewusst nicht ins Referendariat zur praktischen Ausbildung gehen, weil sie mit dem bayerischen Schulsystem nicht einverstanden sind?
In Würzburg haben sechs junge Frauen gerade erfolgreich das Erste Staatsexamen in der Sonderpädagogik abgelegt – und weichen nun aber erst einmal in andere Bundesländer aus. Denn dort versprechen sie sich mehr "echte" Inklusion an den Schulen. Ihre Kritik an Bayern: Das Kultusministerium deute "Inklusion" um und verstoße damit gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit 2009 in Kraft ist.
Kritischer Brief der Lehramtsanwärterinnen an das bayerische Kultusministerium
Laut Artikel 24 dürfen "Menschen mit Behinderung nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden". Genau dies aber geschehe im Freistaat, sagen Marthe Haas (26), Katharina Arbogast (26), Lea Höfer (25), Veronika Nützel (24), Carolin Felber (25) und Elena Masuhr (26). Das Förderschulsystem grenze aus, monieren sie in einem Brief an Kultusminister Michael Piazolo, Staatssekretärin Anna Stolz (beide Freie Wähler) und weitere Verantwortliche im Ministerium.
Die sechs Lehramtsanwärterinnen erleben alle den gleichen Konflikt: Einerseits die Überzeugung und der Wunsch, auf jeden Fall einmal als Lehrkraft arbeiten zu wollen. Andererseits die Unzufriedenheit mit den bayerischen Verhältnissen, die sie früh kennengelernt haben.
Alle sechs haben ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) an Förderschulen absolviert. "Dort bin ich als 18-Jährige erstmals mit Menschen mit Behinderung in Kontakt gekommen", erinnert sich Lea Höfer, an der Uni Würzburg die Beste im diesjährigen Staatsexamen.

Dass junge Menschen in eigenen Einrichtungen "am Stadtrand" von normalen Schulen separiert werden und teils "irre weite" Anfahrtswege haben, dass sich häufig ihr gesamtes Leben in der Einrichtung abspielt – das war für die jungen Frauen eine prägende und abschreckende Erfahrung. Bei den späteren Praktika hätten sie Ähnliches erlebt, berichten sie. Das Studium zogen sie dennoch durch - um jetzt für "richtige" Inklusion zu kämpfen: für eine Regelschule, die Menschen mit einer Behinderung ebenso besuchen können wie ohne.

Dass dies keine Lappalie ist, leuchtet den jungen Frauen ein. Das Schulsystem müsse entsprechend umgebaut werden. Weil normale Lehrkräfte mit der Aufgabe überbeansprucht seien und es schon jetzt zu wenig Personal an den Schulen gibt, seien "multiprofessionelle" Teams nötig. Wo möglich, sollten Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden. Wo nicht, sollten Schülerinnen und Schüler speziell gefördert werden.
Initiative "All In" gegründet, um auf Problematik aufmerksam zu machen
In einem solchen Miteinander möchten die sechs Absolventinnen ihre erworbene Expertise einbringen. Ein inklusives Bildungssystem, so fordern sie, brauche "hochprofessionelle und hochspezialisierte" Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen. Doch in Bayern "stagnieren die Bemühungen und Bestrebungen zu einer inklusiven Bildung seit Jahren", heißt es kritisch in dem Thesenpapier, das die sechs mit ihrer eigens gegründeten Initiative "All In" herausgegeben haben.
Damit wollen sie die Öffentlichkeit über die ausgemachten "Missstände" aufklären: Bayern setze Inklusion nur scheinbar um und "verhindert sie durch trügerische Maßnahmen aktiv".
Solche Kritik weist das Kultusministerium zurück, die Stabsstelle Inklusion reagierte in einem Brief auf den Protest der jungen Frauen. Bayern, so heißt es darin, habe 2011 den Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention im Schulrecht umgesetzt. Inklusion sei seither verbindliche Aufgabe aller Schulen.
Kultusministerium: "Passgenaues Angebot" für jede Schülerin und jeden Schüler
Eine besonders wichtige Rolle, erklärt Ministeriumssprecher Günther Schuster, spielten dabei die Förderschulen – mit ihrem speziellen Bildungsangebot für eine "langfristig gelingende Teilhabe". Außerdem könnten sie die Regelschulen bei der Inklusion unterstützen, unter anderem mit Mobilen Sonderpädagogischen Diensten.
Für das Kultusministerium besteht Inklusion darin, dass jede Schülerin und jeder Schüler ein "passgenaues Angebot" finden kann – und Unterstützung erhält, wo erforderlich. Für die Umsetzung mit 100 zusätzlichen Stellen pro Jahr brauche es gut ausgebildete Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. Und, sagt Ministeriumssprecher Schuster: "Wir haben daher die Initiatorinnen von 'All In' ermutigt, ihren Ausbildungsweg in Bayern fortzusetzen."

Die sechs angehenden Sonderpädagoginnen wollen dies zunächst nicht. Sie halten das Referendariat als praktischen Teil der Lehrerausbildung für wichtig und sinnvoll. Aber, sagen Marthe Haas und Katharina Arbogast: "Wir wollen jetzt erstmal Erfahrung an tatsächlich inklusiven Schulen sammeln" – in anderen Bundesländern.