Wie in den letzten beiden Jahren ging es auch an diesem Sonntagvormittag beim Neujahrsempfang der Stadt viel um das Miteinander und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Etwa 400 Menschen waren in den Ratssaal gekommen, Oberbürgermeister Christian Schuchardt begrüßte Vertreter aus Politik, Verbänden, Behörden, Justiz, Hochschulen, Blaulichtorganisationen, Kirchen, Religionsgemeinschaften und "ganz besonders die normalen Mitbürgerinnen und Mitbürger und die Kolleginnen und Kollegen der Stadtverwaltung". Die Neujahrsansprache hielt in diesem Jahr die Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger aus Berlin.
Erst einmal sorgte die ehemalige Präsidentin des "Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung" für einen beim Neujahrsempfang eher ungewöhnlichen Moment: Sie stimmte zusammen mit den Anwesenden ein Geburtstagsständchen für FWG-Stadtrat und Handwerkskammer-Vizepräsident Josef Hofmann an. Nach der fröhlichen Gesangseinlage wurde es dann aber schnell ernst und nachdenklich.

"Be kind" - zu Deutsch: "Seid freundlich" - sei ihr ganz großer Wunsch für das Jahr 2025, sagte Allmendinger und bezog sich damit vor allem auf den aktuellen Bundestagswahlkampf und andere politische Auseinandersetzungen: "Das Motto für uns alle sollte sein, einander zuzuhören und Freundlichkeit walten zu lassen."

Jutta Allmendinger: "Wir ziehen uns zurück in die eigenen sozialen Kreise"
Die Waffenruhe im Gazastreifen, die eine gute Stunde vor ihrer Rede begonnen hatte, bezeichnete sie als "gutes Zeichen für den heutigen Tag". Ihr zweiter großer Wunsch für das neue Jahr: "Vielleicht bekommen wir es ja hin, dass auch in der Ukraine das Töten bald ein Ende hat."

Allmendinger sprach danach über demografische und soziale Entwicklungen, über Bildung, Migration, Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Die Sozialwissenschaftlerin beobachtet in Deutschland eine Entwicklung hin zur Trennung unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten. "Wir ziehen uns zurück in die eigenen sozialen Kreise", sagte sie und hatte auch konkrete Lösungsansätze parat: So rät sie dazu, lieber ins Restaurant zu gehen, statt bei Lieferdiensten zu bestellen und besser in der eigenen Stadt einzukaufen, statt im Internet zu bestellen. Auch forderte sie, sozialen Wohnraum nicht getrennt von den Wohnungen finanziell besser gestellter Menschen zu bauen und wieder mehr konsumfreie Orte der Begegnung im öffentlichen Raum zu schaffen. "Gerade in den neuen Bundesländern gehen solche Orte immer mehr verloren. (…) Wir müssen die Menschen wieder zusammenbringen", forderte Allmendinger.

Allmendinger sprach außerdem über die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in Zeiten des Fachkräftemangels. Lösen lasse sich das Problem unter anderem dadurch, dass Geflüchtete so früh wie möglich Deutsch lernen und ihre Ausbildungen und Abschlüsse unbürokratischer als bisher anerkannt werden. "Wir dürfen sie nicht in irgendwelche Camps am Rand stecken, sondern müssen ihnen helfen", so Allmendinger. Die aktuelle Debatte um "Remigration" hält die Harvard-Absolventin "für das Falscheste, was wir tun können."
Männer sollten mehr unbezahlte Care-Arbeit übernehmen
Auch eine Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen würde der Wirtschaft helfen - allerdings nur unter der Maßgabe, dass Männer einen Teil der unbezahlten Tätigkeiten bei der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen übernehmen. "Eine solche Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Tätigkeit führt nicht in den wirtschaftlichen Abgrund", so die 68-Jährige: "Es erhöht die Produktivität, weil Frauen im Durchschnitt besser als Männer ausgebildet sind." Nach dieser Aussage fiel der Applaus im Saal deutlich verhaltener aus als an anderen Stellen.

Der Oberbürgermeister Christian Schuchardt hatte zuvor die Stadtentwicklung des vergangenen Jahres Revue passieren lassen und einen Ausblick auf 2025 gegeben. Die Arbeit von Umwelt-Bürgermeister Martin Heilig (Grüne) und Schul-Bürgermeisterin Judith Roth-Jörg (CSU), die sich beide um seine Nachfolge bewerben, lobte er dabei gleichermaßen. Schuchardt forderte die Anwesenden auf, bei Bundestags- und OB-Wahl vom Wahlrecht Gebrauch zu machen und dafür zu sorgen, dass Würzburg "vom schon viel zu weit fortgeschrittenen Rechtsruck" weiterhin verschont bleibe. Schuchardt plädierte außerdem für einen sauberen und fairen Wahlkampf ohne persönliche Angriffe: "Anstand sollte das Markenzeichen der Demokratie in unserem Land bleiben."