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Würzburg: Missbrauchs-Prozess: Eine Mutter sitzt dem Angeklagten im Nacken

Würzburg

Missbrauchs-Prozess: Eine Mutter sitzt dem Angeklagten im Nacken

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    Keinen Moment lässt die Mutter eines missbrauchten Buben im Prozess in Würzburg den Angeklagten aus den Augen.
    Keinen Moment lässt die Mutter eines missbrauchten Buben im Prozess in Würzburg den Angeklagten aus den Augen. Foto: Thomas Obermeier

    Nur heimlich können Kinderpornografen ihrer Neigung nachgehen. Den Drang zum Versteckspiel hat der Logopäden noch immer: Mühsam verbirgt er beim Betreten des großen Saales im Landgericht Würzburg sein Gesicht hinter einem Aktenordner – nicht nur vor den Fotografen. Auch vor der blonden Frau, die ihn mit ihren Augen fixiert und die seit Monaten an jedem einzelnen Verhandlungstag direkt hinter ihm sitzt.

    Oliver H. will schnell dahin, wo er sich sicher fühlt: zur Anklagebank, an der ihn rechts und links seine Verteidiger abschirmen und wo er der Öffentlichkeit den Rücken kehren kann. Aber Maria B. (Name geändert) sitzt ihm im Nacken wie ein blonder Racheengel. Keine drei Meter trennen ihn von der Mutter eines seiner sieben Opfer. Aber er blickt nie zurück, nur stur nach vorn. Reglos. Fast wortlos. 

    Mit dieser Szene begann jeder der bislang elf Prozesstage. Sie wird in den Köpfen bleiben, auch wenn das Urteil längst gesprochen ist. An diesem Montag wird der spektakuläre Prozess fortgesetzt, möglicherweise fällt bereits das Urteil. Wenn nicht, ist der 4. Juni dafür vorgesehen. Die Staatsanwaltschaft fordert fast 14 Jahre Haft für den Logopäden.

    Die 30-jährige Mutter mit den blonden, hochgesteckten Haaren ist Nebenklägerin für ihren vergewaltigten siebenjährigen Buben, der hier Marco heißen soll. Als im März – ein Jahr nach Beginn der Ermittlungen – die Verhandlung am Landgericht Würzburg begann, wollte Maria B. dem Angeklagten noch zähneknirschend "die Haut lebend vom Leib ziehen". Elf zermürbende Prozesswochen später sehnt sie nur noch das Urteil herbei.

    Die Mutter hatte so viel Hoffnung in die Therapie gesetzt

    Die Eltern anderer Opfer tauchten ab. Maria B. hat keine Angst vor Öffentlichkeit, sie will den Mann anprangern, von dem sie sich einst Hilfe für ihren behinderten Sohn erwartet hatte. Sie nennt den Therapeuten nicht mehr beim Namen, sie nennt ihn "das Monster". 

    Für die Mutter war es ein steiniger Weg, einem behinderten Kind ins Leben zu helfen. An dem Tag, an dem die Kripo an ihrer Wohnungstüre klingelte, wurde er zum Kreuzweg: Ihr Marco war eines der sieben Opfer seines Logopäden aus Würzburg. "Wir hatten gehofft, dass unser Kind durch die Therapie zu sprechen beginnt", erinnert sich Maria B. Aber wenn er von den Terminen mit dem angesehenen Logopäden zurückkam, "war er aggressiv, schlug und biss", sagt die Mutter. "Heute wissen wir, warum."

    Schwerer sexueller Missbrauch an behinderten Buben

    Der stille, bubenhafte 38-jährige Logopäde vor ihr auf der Anklagebank hat zu Prozessbeginn am 5. März gestanden, was anhand der Beweise nicht zu leugnen war: den schweren sexuellen Missbrauch von sieben Buben zwischen zwei und sechs Jahren - alle schwer behindert und nicht fähig, ihren Eltern die Pein zu verraten. Die Taten geschahen zum Teil in seiner eigenen Praxis sowie in Kitas, in denen er engagiert war – und wo nebenan ahnungslose Erzieher andere Kinder betreuten.

    "Unter Tränen" habe er gestanden und gesagt: Er verstehe inzwischen, wie er Vertrauen missbraucht habe, berichtet Gerichtssprecher Rainer Volkert. Gehört haben das nur wenige, die Öffentlichkeit ist zum Schutz der Opfer weitgehend vom Prozess ausgeschlossen.

    Der Angeklagte gibt sich fast desinteressiert

    Natürlich bleibt er Mensch, auch wenn ihn eine Mutter in ihrem Schmerz "Monster" nennt. Aber öffentlich lässt der 38-Jährige den Prozess nahezu regungslos, fast desinteressiert über sich ergehen. Nur zu Beginn und am Ende jeden Tages bleibt ihm der Spießrutenlauf nicht erspart. In Handschellen wird er dicht an der Mutter vorbeigeführt, die ihn nicht aus den Augen lässt. Meist blickt er ins Leere. "Einmal hat er mich angesehen, zehn Sekunden lang", sagt Maria B. "Gesagt hat er kein Wort."

    Ihrem Sohn Marco hat er besonders schlimm mitgespielt: 20 Vorfälle bis zur vollzogenen Vergewaltigung listet die Anklage auf, nüchtern, sachlich, furchtbar. "Ich musste beim Lesen immer wieder aufhören, weil mir schlecht wurde", erinnert sich die Mutter. Sie schlief nächtelang nicht, weil ihr die Bilder nicht mehr aus dem Kopf gingen.

    Der Missbrauch geschah, während ahnungslose Kita-Mitarbeiter nebenan Kinder betreuten (Symbolbild).
    Der Missbrauch geschah, während ahnungslose Kita-Mitarbeiter nebenan Kinder betreuten (Symbolbild). Foto: Getty Images

    Sie hat zunächst ihren Job aufgegeben, um sich rund um die Uhr um ihr Kind kümmern zu können. Sie sind in eine andere Vorort-Gemeinde von Würzburg gezogen – nicht aus Angst vor dem Gerede. Der Tapetenwechsel könne Marco gut tun, empfahl eine Ärztin.

    Ein Beispiel, das Mut machte

    Manche meinen, Maria B. übertreibe und fühlen sich zu Unrecht getroffen von ihrem überschäumenden Zorn: der Ex-Mann des Angeklagten, die Kita-Mitarbeiterinnen, denen sie nicht glaubt, dass sie nie etwas bemerkten – obwohl die Ermittlungen keinerlei Hinweise auf Mitwisser oder Komplizen lieferten. 

    Anderen Eltern gibt ihr Beispiel Mut, den Tatsachen – und dem Logopäden – ins Auge zu schauen. Als sie im Zeugenstand ihre Verzweiflung dem Angeklagten endlich ins Gesicht sagen können, ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Aber "ich habe alles gesagt, was mir auf dem Herzen lag", sagt Maria B. hinterher erleichtert. Der Angeklagte habe vor sich hin gestarrt und ohne erkennbare Regung nur stumm Notizen gemacht, sagt einer, der dabei war.  

    An der Grenze des Erträglichen

    Eisern kommt die blonde Frau trotz Corona zu jedem Prozesstag – dann müssen Lebensgefährte oder Oma auf Marco aufpassen. Nur als die schlimmen Videos vom Missbrauch gezeigt werden, hält sie es nicht aus im Saal – um später mit rot geweinten Augen und krampfhaft zu Fäusten geballten Händen zurück zu kommen. "Ich bin es meinem Sohn schuldig." 

    Zeitweise drängelten Zuschauer in den Prozess, der aber teilweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurde.
    Zeitweise drängelten Zuschauer in den Prozess, der aber teilweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurde. Foto: Thomas Obermeier

    Es geht um weit mehr als Hin- und Herschieben von schmutzigen Bildern am PC. Glaubt man der Anklageschrift von Staatsanwältin Manuela Teubel, dann zeigen die Videos auch, wie sich die kleinen Opfer gegen den sexuellen Missbrauch verzweifelt sträubten, aber ihr Widerstand gebrochen wurde. "Mir ist schlecht," sagt die Mutter, als das zum Thema wird – und verschwindet auf der Toilette.

    Ein Ermittler betont: "Jeder pädophile Tauschpartner profitiert vom Missbrauch des anderen und hält so ein konspiratives Räderwerk am Laufen, das ähnlich funktioniert wie der Drogenhandel: Die Suche nach der immer stärkeren Dosis zieht den Süchtigen immer tiefer in den Sumpf: Er muss seinerseits immer brutaler Kinder missbrauchen, um Bilder zum Tausch anbieten zu können."

    Zahl der Missbrauchs-Fälle stieg um 65 Prozent 

    Die Zahl der registrierten Missbrauchs-Fälle stieg 2019 in Deutschland um 65 Prozent (bei einer Dunkelziffer, die man nur ahnen kann). Das ist nicht allein damit erklärbar, dass die Polizei schärfer kontrolliert. Binnen weniger Monate fanden etwa 110 000 internationale Kunden den Weg zu den Porno-Dealern der Plattform "Elysium", ehe die Polizei den Laden dicht machte.

    Gut vernetzter Einzeltäter

    Im vergangenen Jahr erfasste das Bundeskriminalamt fast 14 000 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern. Dazu kommen 12 000 Verfahren wegen Kinderpornos. Anwalt Christian Mulzer weiß: "Mit der Festnahme des Logopäden ist das nicht zu Ende. Seine Kinderpornos wandern noch jahrelang weiter von Hand zu Hand."

    Der Logopäde war Einzeltäter, aber Teil eines Netzwerkes zum Bildertausch. 44 Ermittlungsverfahren sind durch den Würzburger Fall ins Rollen gekommen, 17 davon im Ausland. Darunter war ein Mann, der brutal protzte: Am Wochenende werde er das Kind seiner Lebensgefährtin missbrauchen und dabei filmen – "eine Szene wie aus einem Horrorfilm", fand Opferanwalt Hanjo Schrepfer.

    Nutzt der wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern angeklagte Logopäde die Chance zum letzten Wort, ehe der Vorsitzende Michael Schaller das Urteil verkündet?
    Nutzt der wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern angeklagte Logopäde die Chance zum letzten Wort, ehe der Vorsitzende Michael Schaller das Urteil verkündet? Foto: Daniel Peter

    "Wir sehen eine Gier nach immer extremer werdendem Material", sagt Mario Huber, der Dezernatsleiter Cybercrime im bayerischen Landeskriminalamt. Er sieht "eine extrem konspirativ agierende Klientel" am Werk, "die sich der sozialen Ächtung und des Verfolgungsdrucks bewusst ist."

    Ein Gerichtsgutachter attestiert dem Angeklagten in Würzburg, er habe vor allem Mitleid mit sich selbst. Die Mutter wird wütend, wenn er sich darüber beschwert, dass er bei der Festnahme Prügel bezog und nun klagt: Er habe alles verloren, was ihm lieb gewesen sei.

    Er berichtet über Drohungen im Knast und beschwert sich über die kleine Zelle. Seine Verteidiger suchen unter den Mitarbeitern der Kitas auf eigene Faust nach Fürsprechern, um die zu erwartende Strafe zu mildern. Sie sollen bezeugen, wie viel Gutes der Therapeut auch bei den missbrauchten Buben bewirkt habe. Eine, die angeschrieben wurde, sagt: Das komme für sie nicht in Frage: "Es gibt nichts, was diese Verbrechen entschuldigt."

    Es gibt weitere Verdachtsfälle, aber keine Beweise

    500 behinderte Buben waren in Kitas und seiner Praxis laut Kripo bei dem Therapeuten in Behandlung, die in sein "Beuteschema" passten. Noch immer treibt Eltern die Angst um, auch ihr Kind könnte Opfer gewesen sein. 24 weitere Verdachtsfälle hat die Kripo in ihren Akten, ohne dass Beweise dafür zu erbringen waren. "Die Ungewissheit kriegen sie nicht aus dem Hinterkopf", weiß Opferanwalt Bernhard Löwenberg.

    Auch das Gericht wirkt inzwischen regelrecht gebeugt von der drückenden Last seiner Verantwortung. Der Ton zwischen Verteidigern und einigen Opferanwälten ist frostig geworden, aber sogar der sonst so gelassene Vorsitzende Michael Schaller – der den schwierigen Prozess geduldig wie ein Tanker-Kapitän auch durch die Wellen der Corona-Krise steuerte – hat es aufgegeben, zu vermitteln. Die Zuschauer haben längst die Übersicht verloren, weil das Gericht immer wieder die Öffentlichkeit ausschließt.  

    Mutter: "Vielleicht gibt es eine höhere Gerechtigkeit"

    Sie sei "froh, wenn jetzt endlich Schluss ist", gesteht Maria B. in einer Prozesspause, aber "nicht traurig" darüber, dass sich im Gefängnis herumgesprochen hat, warum der Häftling einsitzt. Familie ist sogar Kriminellen im Knast heilig. Pädophile stehen in der Hackordnung ganz unten und müssen Übergriffe befürchten, bestätigen zwei Gefängnisdirektoren im Zeugenstand. "Vielleicht gibt es eine höhere Gerechtigkeit", knurrt die Mutter.

    Immerhin. Für sie gibt es einen Silberstreif am Horizont nach vielen quälenden Monaten: "Marco", sagt sie, und die Freude spiegelt sich in ihrem Gesicht, "hat sein Lachen wiedergefunden".

    Ob der Logopäde wenigstens an diesem Montag im letzten Wort vor dem Urteil die Chance ergreift, sich zu entschuldigen? "Das hilft meinem Sohn jetzt auch nichts mehr", sagt Maria B. "Ich hoffe, er kriegt seine gerechte Strafe." Wenn der Richter sein Urteil spricht, wird sie wieder dabei sein. Direkt in der Reihe hinter dem Mann, den sie "das Monster" nennt.

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