Als Deutschlands bekanntestes Mobbingopfer hat es der mittelfränkische Youtuber "Drachenlord" alias Rainer Winkler (33) zu zweifelhafter Prominenz gebracht. Seit Jahren formieren sich seine Anti-Fans über das Netz zu einem Hassmob, der selbst vor seinem Wohnhaus nicht halt machte.
Ende März kam es auch in Würzburg zu einem Zwischenfall. Beim Warten auf seinen Zug geriet der 33-Jährige in eine handfeste Auseinandersetzung mit drei oder vier Männern. Ein Video zeigt gegenseitige Beschimpfungen und eine Rauferei des "Drachenlords" mit mehreren Männern.
Doch woher kommt dieser Hass gegen ihn? Prof. Markus Appel, Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationspsychologie und Neue Medien an der Universität Würzburg, analysiert den Fall und gesellschaftliche Bedingungen.
Frage: Eine hasserfüllte Meute jagt einen Menschen, dem niedrige Intelligenz und seelische Störungen bescheinigt sind. Haben Sie eine Erklärung für das Phänomen?
Prof. Markus Appel: Der Drachenlord ruft bei seinen Hatern eine Art Fremdschämen hervor: nicht mitleidig-positiv, sondern eben verachtend. Man hält sich für klüger und moralisch überlegen und rückt die vermeintlichen Verfehlungen des Opfers in den Mittelpunkt. Man tritt nach unten und will der Person "eine Lektion erteilen."

Verachtung klingt milde. Es geht um organisierten Hass, als wollte man einen Menschen zu Tode hetzen.
Appel: Das Außergewöhnliche an diesem Fall ist, dass der Hass nicht im Online-Universum geblieben ist, sondern sich ebenso stark in der Realwelt manifestiert hat. Dass Leute sogar den Wohnort aufgesucht haben und es dort zu Gewalt und Auseinandersetzungen kam. Und dass es der Dorfgemeinschaft und der Polizei vor Ort nicht gelungen ist, den Anfängen zu wehren und das Zusammenrotten von Auswärtigen zu stoppen. Auch da scheint etwas falsch gelaufen zu sein.
Verstärken sich hier digitale und reale Welt zu einer Spirale von Aggression und Eskalation?
Appel: Ja, das sind Prozesse des gegenseitigen Hochschaukelns. Die Reaktionen des "Drachenlords" füttern natürlich die Hater und erhalten die Dynamik des Konflikts, ohne dass ich die Verhaltensweisen gleichstellen wollte. Es gibt hier meines Erachtens ein klares Opfer, das ist der Drachenlord. Und es gibt Leute, die Täter sind oder auch nur Zuschauer, die sich darüber amüsieren.

Aber warum dieser Hass, dieses brutale "Spiel"?
Appel: Die Hater kommen zum Teil aus der Mitte der Gesellschaft, sie haben Jobs, sind erfolgreich, haben Familie – also ganz normale Menschen, auch wenn es ihnen an Empathie fehlen mag. Für diese Leute ist das Unterhaltung. Statt Computerspielen schaut man sich diese Videos an, kommentiert sie. Wobei das nur funktioniert, wenn immer neuer Content kommt. Hier entsteht dann eine Art Abhängigkeit zwischen der Figur als Hassobjekt und den Hatern.
Der Fall Drachenlord wirkt wie auf dem Schulhof: Die Meute stürzt sich auf ein schwaches Opfer.
Appel: Die Opfer von Hass im Internet werden nicht zufällig gewählt. Das trifft typischerweise Leute mit Schwächen oder die sich in den Augen anderer angreifbar machen. Wer in seinen Ausdrucksmöglichkeiten limitiert ist, wird eher zur Zielschiebe. Das gilt generell für Hass im Netz genauso wie für direktes Cybermobbing oder "Cyberbullying", wie wir in der Wissenschaft sagen: Da werden Menschen wegen ihres Aussehens, ihrer sexuellen Orientierung oder bestimmter Limitiertheiten diskriminiert und im Schulhof oder in WhatsApp-Gruppen verächtlich gemacht.
Ist das Netz ein Brandbeschleuniger für solchen Hass, weil es ganz andere Reichweiten schafft?
Appel: Ja, die Reichweiten spielen hier eine große Rolle. "Bullying", also Mobbing, gab es früher schon auf dem Schulhof oder im Bus. Dies hat schon damals junge Menschen nachhaltig geschädigt, die Gesellschaft war aber leider nicht so sensibel wie heute. Auf dem Schulhof ist die Anzahl der Beteiligten allerdings begrenzt. Und Gemeinheiten konnte man auch wieder vergessen. Das Internet dagegen vergisst nichts. Ein Video, das vor fünf Jahren aufgenommen wurde, ist immer noch zu finden. Und was den Hass im Netz zusätzlich verstärkt, ist die Anonymität. Da sind oft große Gruppen von Leuten am Werk, zum Beispiel auf Telegram, die sich nicht mit Klarnamen zu erkennen geben.
Müssten Staat und Justiz härter gegen Hass im Netz durchgreifen?
Appel: Das müsste man Juristen fragen. Ich glaube, wir brauchen insgesamt noch eine größere Sensibilität für das, was im Netz passieren kann – bei Schulen, Eltern, Polizei. Überall dort, wo Ausbildung stattfindet, gerade in der Schule, muss digitale Kommunikation noch viel stärker thematisiert werden. Da sollte es nicht nur um Hass und Hetze gehen, sondern zum Beispiel auch um das Selbstbild von Jugendlichen: Wie kann sich das Körperbild verändern, wenn man Fitness-Influencern folgt? Solche Themen sollten nicht einigen engagierten Lehrkräften überlassen werden – die sachgerechte Auseinandersetzung mit digitaler Kommunikation gehört in den Lehrplan.

Was würden Sie jungen Menschen oder auch Eltern raten, um die Gefahr von Cybermobbing zu reduzieren?
Appel: Zur Vorbeugung wäre wichtig, dass Jugendliche eine Vertrauensbasis mit ihren Eltern haben, damit sie sich trauen, auf mögliche Angriffe hinzuweisen. Und generell sollte man Fehlverhalten als solches transparent machen – das hat eine abschreckende Wirkung. Das gilt zum Beispiel für WhatsApp-Gruppen: Hier sollten Beleidigungen oder Diffamierungen nicht hingenommen werden, da braucht es Widerspruch. Denn umgekehrt gibt es das Phänomen, dass Täter sich durch das Schweigen der Gruppe bestärkt fühlen und sich selbst für die Mutigsten halten.
Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn eine Meute hasserfüllt über einzelne Menschen mit offenkundigen Schwachstellen herfällt?
Appel: Wir sprechen hier wirklich über einen krassen Fall. Aber wenn ich über das erwähnte verächtliche Fremdschämen nachdenke, sehe ich Häme und Ausgrenzung nicht nur im Internet. Nehmen Sie Formate wie "Deutschland sucht den Superstar": Ich habe den Eindruck, dass da von den Tausenden an mehr oder wenig talentierten Bewerberinnen und Bewerbern vor allem Leute mit erkennbaren Defiziten präsentiert werden. Die Macher der Sendung erhoffen sich offenbar Unterhaltung in Form von verachtendem Fremdschämen. Eigentlich müsste man diese Personen schützen, stattdessen macht man sie zum Gespött des Publikums. "Deutschland sucht den Superstar" ist nur eines von vielen Beispielen. Im Privatfernsehen hat über die Jahre eine schleichende Entmenschlichung stattgefunden. Da hat die Gesellschaft nicht aufgepasst und so etwas wurde als vermeintlich legitime Unterhaltung etabliert. Und im Internet sind die Folgen durch das aktive Interagieren noch gravierender.
Zur Person Prof. Markus Appel ist seit 2017 Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationspsychologie und Neue Medien an der Würzburger Julius-Maximilians-Universität (JMU). Davor (2013-2017) leitete er die Arbeitseinheit Medienpsychologie an der Universität Koblenz-Landau. Die Schwerpunkte des 49-Jährigen liegen im Bereich der Medien- und Technologieforschung. Er untersucht unter anderem die Auswirkungen von Online- und Mobilmedien auf das Verhalten ihrer Nutzer. Besonderes Augenmerk legte er zuletzt auf die psychologischen Folgen bei der Verbreitung und Verarbeitung von Falschmeldungen. Appel hat zwei Bücher zu psychologischen Fragen rund um die digitale Kommunikationswelt herausgegeben: "Die Psychologie des Postfaktischen. Über Fake News, Clickbait & Co." (Verlag Springer) und "Digital ist besser?! Die Psychologie der Online- und Mobilkommunikation" (Springer). aj