Offizielle neue Zahlen gibt es nicht, allenfalls Schätzungen. Der DAK-Kinder- und Jugendreport 2018 stellte vor einigen Jahren schon fest, dass in Deutschland 3,5 Prozent aller Schulkinder von Schulangst oder Schulphobie betroffen sind. Bei Jungen wurde sie demnach etwas häufiger diagnostiziert und behandelt als bei Mädchen.
Wenn Kinder und Jugendliche sich weigern, zur Schule zu gehen, kann das viele Ursachen haben, sagt Prof. Marcel Romanos von der Uniklinik Würzburg. Welche Probleme hinter den Ängsten stecken könnten und was Kindern hilft, erklärt der Klinikdirektor der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Interview.

Frage: Was ist Schulangst?
Marcel Romanos: Schulangst ist ein unscharfer Begriff, der oft alle Ängste im Zusammenhang mit der Schule umfasst. Viele Schulsituationen können Angst auslösen: der Schulweg, Stress oder Enge im Bus, Schulaufgaben, schlechte Noten, Mitschüler oder Mobbing. Auch eine Trennungsangststörung kann dazu führen, dass Kinder nicht mehr in die Schule gehen wollen. Angsterkrankungen können aber meist gut und oft auch schnell behandelt werden.
Was ist eine solche Trennungsangststörung?
Romanos: Ein Kind bleibt der Schule fern, weil es Schwierigkeiten hat, sich von der Mutter, dem Vater oder einer anderen engen Bezugsperson zu trennen. Es befürchtet, dass den Eltern während seiner Abwesenheit etwas zustoßen könnte. Diese Trennungssituation ist für die Kinder, aber auch für die Eltern sehr belastend. Immer wieder bleiben Schülerinnen und Schüler aufgrund einer Trennungsangststörung jahrelang zu Hause. Auch die Therapie gestaltet sich oft schwierig, da Eltern nicht selten abbrechen.
Woher kann eine Trennungsangststörung kommen?
Romanos: Das Problem ist oft, dass in der ganzen Familie Ängste bestehen. Dass kleine Kinder in Trennungssituationen ängstlich reagieren, ist zunächst nicht ungewöhnlich. Wenn dann Eltern selbst ängstlich reagieren, signalisieren sie ihrem Kind, dass die Angst berechtigt ist und die Trennungs- oder Verlustängste verstärken sich wechselseitig. Überbehütendes Verhalten der Eltern kann bei den Kindern dann Angststörungen aufrechterhalten oder sogar verstärken.
Ab wann wird Angst zur psychischen Störung?
Romanos: Angst ist ein natürlicher Schutzmechanismus, der uns in Momenten realer Gefahr das Leben retten kann. Doch wenn diese Angst ohne greifbare Bedrohung auftritt, wird sie zur Last. Wenn jemand beispielsweise 80 Prozent des Tages von Ängsten beherrscht wird, wenn diese Ängste die Lebensqualität erheblich mindern oder gar in eine Depression führen, dann wird aus Angst eine psychische Störung. Typischerweise werden dann die Situationen vermieden, die Ängste auslösen.
Was sollten Eltern tun, wenn sie bei ihrem Kind Schulangst bemerken?
Romanos: Eltern können ihrem Kind helfen, indem sie die Ängste ernst nehmen und gleichzeitig Sicherheit vermitteln. Sie sollten ihrem Kind Mut zusprechen, zum Beispiel: "Ich bin sicher, dass du das wieder schaffen kannst. Ich habe oft gesehen, wie mutig du bist." Wenn die Ängste noch nicht zu stark sind, ist es wichtig, die Angst auslösenden Situationen nicht zu meiden. Das bedeutet, trotzdem in die Schule zu gehen, soziale Situationen dennoch aufzusuchen oder bei Angst vor stechenden Insekten trotzdem in den Garten zu gehen. Wenn das Kind diese Situationen immer wieder meistert, hilft dies, die Angst abzubauen.

Und was kann man tun, wenn sich die Ängste schon gefestigt haben?
Romanos: Bei schwereren Formen ist es nötig, wieder gestuft die Anforderungen zu steigern. Dieses gestufte Vorgehen benötigt in der Regel eine therapeutische Begleitung. Die kognitive Verhaltenstherapie gilt als die wirksamste Psychotherapie zur Behandlung von Angsterkrankungen. In dieser Therapieform lernt der Patient, die Denkprozesse und Verhaltensweisen zu verstehen, die seine Angst auslösen oder verstärken. Auf dieser Grundlage kann er vermeidende Verhaltensweisen bewusst ändern und Schritt für Schritt die Erfahrung machen, dass die Angst besiegt werden kann.
Gibt es auch Medikamente, die gegen Ängste helfen?
Romanos: Zur medikamentösen Behandlung einer Angststörung setzen wir - auch bei Kindern - Antidepressiva ein, die gut verträglich sind und nicht abhängig machen. Diese Medikamente wirken sehr gut, werden jedoch noch zu selten verschrieben, wenn die Verhaltenstherapie nicht ausreicht. Bleiben Ängste lange unbehandelt, können sie sich weiter verfestigen.

Wo finden Eltern konkret Hilfe bei Schulangst?
Romanos: Es gibt verschiedene Anlaufstellen. Viele suchen zunächst Rat beim Haus- oder Kinderarzt, der die Familie für eine Therapie weitervermitteln kann. Eine Erziehungsberatungsstelle kann gute Unterstützung geben, um Lösungsansätze zu entwickeln. Erziehungsberechtigte können sich auch direkt an Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten wenden oder einen Termin bei einem Kinder- und Jugendpsychiater vereinbaren.