Wer einen anderen rettet, befreit ihn aus einer Gefahr. Er bewahrt ihn vor Untergang, Schaden oder sogar vor dem Tod. So definiert es der Duden. Retten setzt Mitmenschlichkeit und Verantwortungsgefühl voraus. Und schon die reine Wortbedeutung zeigt: es ist immer eine Herausforderung. Das gilt für die Seenotretter im Mittelmeer wie für die Klimaretter der "Fridays for Future"-Bewegung. Es gilt für fast jeden Notstand und jede Katastrophe. Und für die Pflege, die vor dem Kollaps steht? Ist sie noch zu retten?

Genau das fragten die ersten Mainfränkischen Pflegegespräche. Die Antwort: Ja. Auch wenn es anstrengend, vielleicht unbequem und eben herausfordernd wird. "Es ist wichtig, das gemeinsam anzugehen", sagte Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) bei der neuen Diskussionsveranstaltung in Würzburg, zu der die Stiftungen Bürgerspital und Juliusspital sowie die Mediengruppe Main-Post eingeladen hatten. Ein Satz, der einfach klingt, aber alles andere meint.
"Wenn wir noch ein paar Jahre brauchen, haben wir erst ein richtiges Problem."
Walter Herberth, Oberpflegeamtsdirektor der Stiftung Juliusspital
"Wir haben, was die Personaldecke, was die Finanzierung in der Pflege angeht, ein schwerwiegendes Problem", bestätigte Annette Noffz, leitende Stiftungsdirektorin des Bürgerspitals, zu Beginn. Es mangelt bundesweit an Fachkräften, mindestens 40 000 fehlen. Nach Prognosen könnten es bis 2030 Hunderttausende sein. Eklatante Versorgungslücken drohen. Schönreden wollte das niemand an diesem Abend. Aber es sei wichtig, dass die Probleme angegangen würden und "nicht ausschließlich geredet wird", so Noffz.
Ideen dazu gibt es einige, allen voran von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Von 13 000 zusätzlichen Stellen über die "Konzertierte Aktion Pflege", die die Arbeitsbedingungen verbessern und den Beruf attraktiver machen soll, bis zum anvisierten einheitlichen Tariflohn oder dem Anwerben ausländischer Pflegekräfte etwa im Kosovo. Nur: Ist da der große Wurf dabei?

Die Patentlösung sah keiner der Experten in den Vorschlägen. "In meinen Augen sind es viele wichtige Schritte", sagte Ministerin Huml. Etwa das neue Pflegeberufegesetz, das die Ausbildung mit Generalistik und Akademisierung verbessert. Oder der Kampf für eine bessere Bezahlung insgesamt. Ausreichend sei all das aber nicht, weitere Schritte seien nötig.
Dringend, so mahnte Walter Herberth, Oberpflegeamtsdirektor der Stiftung Juliusspital. Aus seiner Sicht reichen "die vielen Allgemeinplätze aus den 111 Vorschlägen" der "Konzertierten Aktion Pflege" nicht aus. Die Suche nach Lösungen dauert ihm zu lange. "Wenn wir noch ein paar Jahre brauchen, haben wir erst ein richtiges Problem."
Pflegende werden mit utopischen Erwartungen konfrontiert
Warum aber gibt es dann keinen Aufschrei? Weshalb interessiert uns der Pflegenotstand so wenig? Das eigentliche Problem, sagte der Würzburger Sozialwissenschaftler Professor Ernst Engelke, liege im Umgang unserer Gesellschaft mit dem Alter, mit Sterben und Leiden. Dem hätten sich die Menschen entzogen, das löse Ängste aus, werde möglichst gemieden. Die Folge: Pflegende sehen sich oft vor utopische Erwartungen gestellt, von Angehörigen wie zu Pflegenden gleichermaßen. Gesund, fit, erfolgreich, selbstoptimiert. Die gängigen Leitbilder unserer Zeit passen nicht mit Bedürftigkeit zusammen. Und doch seien wir "eine Gesellschaft von Pflegebedürftigen", so Engelke. Jeder könne morgen betroffen sein. Konflikte sind programmiert.

"Die Menschen, die den Beruf ausüben, müssen gestärkt werden", forderte deshalb Michael Rügamer. Er ist seit 17 Jahren Altenpfleger und heute Stationsleiter im Seniorenheim St. Nikolaus in Würzburg. Es brauche mehr Unterstützung für Pflegekräfte, zum Beispiel Supervisionen, die Möglichkeit, über Sorgen reden zu können, Gesundheitsprogramme, Entlastung bei der Dokumentation.
"Das Gespräch muss wichtiger sein, als vor dem Computer zu sitzen", bestätigte eine Zuhörerin der Diskussion, die selbst seit zehn Jahren in der Pflege arbeitet. Die Politik müsse endlich mehr Verantwortung übernehmen. Und verändern.
"Wir müssen die Gesamtgesellschaft mitverantwortlich für die Pflegesituation machen."
Professor Ernst Engelke, Sozialwissenschaftler
Das versucht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn seit seinem Amtsantritt. Stichwort: 13 000 zusätzliche Stellen für die Pflege. "Das war die Botschaft schlechthin, das Thema Pflege wird gelöst", sagte Juliusspital-Chef Herberth. Noch sei jedoch keine dieser Stellen besetzt. Wirklich verändert hat das Versprechen nichts. Den Kopf in den Sand zu stecken, werde aber nicht helfen, so Herberth. Um die Pflege zu retten, gelte es, die Herausforderung anzunehmen und umzudenken.
- Fachkräftemangel: Kann Pflege trotz Notstand funktionieren?
- Standpunkt zu Spahns Ideen: Die Pflege bleibt ein Pflegefall

"Wir müssen die Gesamtgesellschaft mitverantwortlich für die Pflegesituation machen", sagte Pflege-Experte Engelke vor mehr als 250 Gästen in der Neubaukirche. Nicht nur die Politik, die Einrichtungsbetreiber und die Pflegenden, sondern jedermann. Eine ganz konkrete Lösung könnte es sein, Seniorenheime künftig gegenüber der Umgebung, den Quartieren, zu öffnen. Indem vielleicht ein Mittagstisch für Angehörige und Nachbarn angeboten werde, indem ambulante und stationäre Pflege enger verzahnt würden.
Ziel ist es, dass sich Menschen mit dem Thema Pflege beschäftigen
"Das ist auch das Ziel", sagte Ministerin Huml. Und dafür müssten sich Menschen mit dem Thema Pflege beschäftigen und aufeinander zu gehen. Die Alten auf die Jungen und umgekehrt.
Es sei wichtig, "dass wir alle wieder anfangen, uns umeinander zu kümmern", ergänzte Bürgerspital-Leiterin Noffz. "Wir haben verlernt, gut zum Anderen zu sein." Andere Wert zu schätzen. Zu loben. Von Angesicht zu Angesicht miteinander zu kommunizieren, nicht nur per Facebook oder WhatsApp. Dann "schaffen wir Stück für Stück ein Klima, in dem menschliches Miteinander ein hoher Wert ist". So kann Veränderung gelingen. Und vielleicht die Rettung der Pflege.
Die Veranstaltung "Ist die Pflege noch zu retten?" in der Neubaukirche in Würzburg war der Auftakt einer neuen Reihe an Podiumsgesprächen zum Thema Pflege. Bei der zweiten Diskussionsrunde im Oktober wird es um das Berufsfeld Pflege, um Chancen und Herausforderungen gehen.
Was Leser zum Thema Pflege wissen wollen: Was haben Sie zur Pflege zu sagen? Wovor fürchten Sie sich? Was würden Sie sich wünschen? Das wollen wir begleitend zu den Mainfränkischen Pflegegesprächen wissen. Einige Ihrer Fragen werden in den Diskussionsrunden aufgegriffen oder an dieser Stelle von unseren Experten beantwortet. Eine Leserin aus Remlingen (Lkr. Würzburg) fragte: Wo, wie und wann kann etwas gegen die immer mehr herrschende respektlose Haltung gegenüber älteren Menschen, Traditionen und tradierten Grenzen getan werden? Antwort von Prof. Ernst Engelke, Sozialwissenschaftler: Jüngeren Menschen ist es auch schon früher schwer gefallen, ältere zu respektieren. Und älteren Menschen ist es schwer gefallen, jüngere zu respektieren. Die Jungen wollen sich nicht mit den Alten identifizieren. Und die Alten neiden den Jungen ihre Jugend. So wird es bleiben. Es sei denn, die Jungen freunden sich mit dem Greis oder der Greisin in sich an. Und die Alten begeistern sich an der Vitalität der Jungen. Eine Leserin aus Kolitzheim (Lkr. Schweinfurt) wollte wissen: Was verdient der Betreiber eines Pflegeheimes tatsächlich an einem Pflegefall? Antwort von Walter Herberth, Oberpflegeamtsdirektor Stiftung Juliusspital, und Annette Noffz, leitende Stiftungsdirektorin Bürgerspital: Diese Frage kann nicht allgemein beantwortet werden, da jede Einrichtung eine andere Kosten- und Belegungsstruktur hat. Auch hängen die Kosten eines Pflegefalles von individuellen Gegebenheiten, insbesondere dem Pflegegrad, ab. Die Stiftungen Juliusspital und Bürgerspital in Würzburg sind gemeinnützige Einrichtungen – in beiden werde mit einem Pflegefall kein Gewinn erzielt, so Noffz und Herberth. Im Gegenteil würden immer wieder Beträge aus den Erlösen anderer Stiftungsbereiche zugeschossen. Laut unserer Leserin aus Kolitzheim verdient das Personal 13,50 Euro pro Stunde. Sie fragt zudem: Mit welchem Faktor lassen Betreiber den Patienten dafür zahlen? Antwort von Walter Herberth und Annette Noffz: Bei dem von der Leserin angegebenen Stundenlohn in Höhe von 13,50 Euro handelt es sich um den häufig im Internet zu findenden durchschnittlichen Verdienst in der Pflege (das Monatsgehalt pendelt sich dort bei rund 2400 Euro ein). In Juliusspital und Bürgerspital würden die Pflegekräfte inklusive Zulagen im Schnitt etwa 3550 Euro verdienen, so Noffz und Herberth. Der niedrigere Internetwert liegt nach Einschätzung der beiden Leiter an der Handhabung privater Einrichtungen beziehungsweise an Spekulanten aus dem Ausland, die zum Teil nur den Pflegemindestlohn (11,05 Euro) zahlen. Manche würden selbst diesen Betrag durch Pauschalzahlungen deutlich umgehen, so Herberth. Auch lägen die Vergütungen in Ostdeutschland (noch) unter dem Westniveau und minderten den Durchschnitt. Wenn Sie ebenfalls Fragen zum Thema Pflege haben, schreiben Sie uns! Zuschriften bitte mit Namen und Kontaktdaten per Mail an pflegegespraeche@mainpost.de (Betreff: Pflegegespräche) oder postalisch an Chefredaktion, Main-Post GmbH, Berner Str. 2, 97084 Würzburg (Stichwort: Pflegegespräche).