An einem Samstag im Januar 2023 wird er wie schon so oft von einem Jucken am ganzen Körper geweckt. Seit Monaten plagen den 65-jährigen Würzburger unerklärliche Allergie-Symptome. Er steht auf und versucht, das unangenehme Gefühl irgendwie zu lindern. Seine Ehefrau ist bereits an die nächtlichen Störungen gewöhnt, doch dieses Mal ist etwas anders: "Er hat gesagt, es gehe ihm gar nicht gut", erinnert sich die 64-Jährige, "und seine Bewegungen waren sehr unkontrolliert."
Ihr Mann verliert das Bewusstsein und landet auf dem Fliesenboden - zum Glück unverletzt, die 64-Jährige kann den erschlafften Körper gerade noch auffangen. Sie legt die Beine ihres Mannes hoch, wählt den Notruf - und ist erleichtert, als ihr Mann nach kurzer Zeit wieder zu sich kommt. Einen Schlaganfall schließt der Notarzt aus. Und er empfiehlt dem Würzburger, ärztlichen Rat einzuholen.
Nahrungsmittelallergie gegen rote Fleischsorten und Innereien
Was der Betroffene zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Er leidet am Alpha-Gal-Syndrom - einer Nahrungsmittelallergie gegen rote Fleischsorten und Innereien. Die allergische Reaktion sei in den meisten Fällen leicht, sagt die Würzburger Dermatologin und Allergologin Dr. Verena Frings: "Betroffene berichten von Nesselsucht und Schwellungen im Gesichtsbereich." Manchmal könne es auch zu Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen kommen. Im Regelfall treten die Symptome zwei bis sechs Stunden nach dem Fleischverzehr auf, häufig nachts.
Zeckenstich im Sommer löste die Allergie aus
Man gehe davon aus, dass die Allergie unter anderem durch Zeckenstiche ausgelöst werden kann: "Im Zeckenspeichel konnte man Alpha-Gal-haltige Moleküle nachweisen", sagt die Ärztin. Auch bei der in Europa häufigsten Art, dem Gemeinen Holzbock, habe man diese bestimmten Zuckermoleküle gefunden. Grund zur Sorge bestehe aber nicht, meint Frings: Keinesfalls müsse bei jedem Zeckenstich getestet werden, ob eine Nahrungsmittelallergie gegen Alpha-Gal vorliege.
Andere von Zecken übertragene Krankheiten wie FSME und Borreliose würden das weitaus größere Problem darstellen, betont die Ärztin. Und: Dass fast ganz Bayern als FSME-Risikogebiet gilt, bedeute nicht unbedingt, dass das Alpha-Gal-Syndrom hier häufiger vorkomme.

Der 65-jährige Würzburger war im Juni 2022 von einer Zecke gestochen worden. Den Stich hatte der Rentner sogar von seinem Hausarzt begutachten und behandeln lassen. Aber auch nach Wochen sei die Stelle noch rot und entzündet gewesen und habe stark gejuckt, beschreibt er. Im Herbst habe er dann nachts plötzlich Ausschlag am ganzen Körper bekommen, begleitet von extremem Juckreiz. In einer anderen Nacht sei seine Zunge so stark angeschwollen, dass er Angst bekommen habe, zu ersticken.
Ausmaß der Reaktion: von verschiedenen Faktoren abhängig
Wie stark die allergische Reaktion bei Betroffenen ist, hängt laut Dermatologin Verena Frings von verschiedenen Faktoren ab. Ausschlaggebend sei nicht nur die verzehrte Menge oder Art roten Fleischs. Alkoholkonsum, körperliche Anstrengung, die gleichzeitige Einnahme von Schmerzmitteln wie Ibuprofen und auch das Alter seien Faktoren, die die Reaktion verstärken oder gar erst hervorrufen könnten.

Beim Hautarzt erhält der 65-Jährige gegen Ausschlag und Juckreiz eine Salbe. Woher die Allergie kommt, bleibt jedoch unklar. Die allergischen Reaktionen werden zunehmend stärker und treten in immer kürzeren Abständen auf - bis zum Ohnmachtsanfall im Januar 2023. Aus Sorge beginnt seine Ehefrau auf eigene Faust zu recherchieren. Und tatsächlich: Die Symptome ihres Mannes stimmen exakt mit denen des Alpha-Gal-Syndroms überein. "Mit dieser Erkenntnis sind wir dann erneut zum Arzt", sagt die Rentnerin, dankbar, dass der Hausarzt die Suchergebnisse erst nahm.
Der Allgemeinmediziner leitet den Betroffenen an das Allergiezentrum Mainfranken im Universitätsklinikum Würzburg weiter. Dort wird das Blut des 65-Jährigen auf das Alpha-Gal-Syndrom getestet. Das Ergebnis: positiv.
Alpha-Gal-Syndrom: Noch keine Daten für Deutschland vorhanden
Erst in diesem Juli hatte die US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) bekannt gegeben, dass das Alpha-Gal-Syndrom in den USA ein zunehmendes Problem darstelle. Zwischen 2010 und 2022 seien dort mehr als 110.000 Fälle festgestellt worden. Wie viele Menschen in Deutschland vom Alpha-Gal-Syndrom betroffen sind, ist unklar: Das Robert Koch-Institut (RKI) erhebt dazu noch keine Daten.

"Diese Allergie ist sehr speziell und bislang selten", sagt Dermatologin Verena Frings. Bekannt sei das Syndrom der Medizin erst seit 2007. Wichtig sei, dass Allergologinnen und Allergologen für das Krankheitsbild sensibilisiert sind, um die richtige Diagnose stellen und Betroffene angemessen betreuen zu können.
Ernährungsumstellung bisher einzige Lösung für Betroffene
Alpha-Gal ist "eine Kohlenhydratstruktur, die in verschiedenen Säugetieren nachweisbar ist", erläutert Frings. Die Menge an Alpha-Gal variiere in den Geweben und Organen der betroffenen Säugetiere: Innereien wie Schweinenieren enthalten beispielsweise höhere Mengen des Kohlenhydrats als rotes Muskelfleisch. In weißem Geflügelfleisch komme Alpha-Gal überhaupt nicht vor.
Eine Ernährungsumstellung sei die einzige Möglichkeit für Betroffene, mit dem Alpha-Gal-Syndrom umzugehen, erklärt die Allergologin. Der 65-jährige Würzburger vermeidet inzwischen, die betreffenden Fleischsorten zu essen. In den Wald geht er seit der Diagnose nicht mehr so gerne - und wenn, dann nur mit viel Zeckenspray. Außerdem besitzt er jetzt ein Notfall-Set und einen Allergiepass. Die Stichstelle, sagt er, jucke ihn bis heute.