Fachkräfte fehlen, Teilzeit ist Trend und Homeoffice seit der Corona-Pandemie immer beliebter. Der Arbeitsmarkt hat sich in den vergangenen Jahren rasant verändert - und das hat Folgen. So löste ein Video auf der Internetplattform Tiktok im Sommer eine große Debatte um den Begriff "Quiet Quitting" aus.
"Quiet Quitting" - übersetzt wird diese Idee häufig mit "stiller Kündigung". In dem Tiktok-Video heißt es, "man erfüllt immer noch seine Pflichten, aber fühlt sich nicht länger an eine Mentalität gebunden, die vorschreibt, Arbeit sei dein Leben". Mittlerweile haben Millionen Menschen den Clip gesehen. Arbeit müsse künftig anders funktionieren, sagt auch Prof. Verena Haun, Arbeits- und Organisationspsychologin an der Universität Würzburg. Ein Gespräch über die Kunst, gesunde Grenzen zu ziehen, die neue Macht der Arbeitnehmer und das Ende der Selbstausbeutung.
Frage: "Quiet Quitting" wurde zum Internet-Trend. Aber was bedeutet das eigentlich?
Prof. Verena Haun: Das Problem ist, unter dem Begriff versteht jeder etwas anderes. In dem Ursprungsvideo heißt es sinngemäß, man kündige beim "Quiet Quitting" nicht seinen Job, sondern arbeite nicht mehr als im Vertrag stehe. In den Medien wurde das häufig mit Dienst nach Vorschrift übersetzt. Aus meiner Sicht muss man die Idee aber differenzierter betrachten.
Inwiefern?
Haun: Dienst nach Vorschrift beinhaltet in Deutschland eine negative Konnotation. Es wird oft so verstanden, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nur die Minimalanforderungen ihres Jobs erfüllen und in Kauf nehmen, dass Kollegen, Kunden oder die Produktivität darunter leiden. "Quiet Quitting" meint aber etwas anderes. Es geht darum, gesunde Grenzen zu ziehen. Das Privatleben von der Arbeit abzugrenzen, ist durchaus sinnvoll.

Früher galt: Der Beruf geht vor, Familie und Freizeit müssen zurückstecken. Ist das vorbei?
Haun: Mein Forschungsschwerpunkt ist die Erholungsforschung, und vor diesem Hintergrund kann ich sagen: Auch wenn Arbeit erfüllend ist und Spaß macht, braucht man Erholung. Wenn aber der Beruf ständig in das Privatleben hineinragt oder Personen pausenlos erreichbar sind, Überstunden machen und am Wochenende arbeiten, leidet darunter die Erholung. Gerade für Menschen, die im Job besonders engagiert sind, ist es wichtig, Arbeit mal Arbeit sein zu lassen und abzuschalten.
Vor allem junge Menschen scheint die Idee des "Quiet Quitting" anzusprechen. Warum?
Haun: Ich denke, der Kontext und die Bedingungen von Arbeit haben sich generell stark verändert – das hat weniger mit dem Alter zu tun. Wir haben momentan einen enormen Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt, das bringt Arbeitnehmer natürlich in eine bessere Verhandlungsposition. Wünsche nach mehr Freizeit oder Flexibilität lassen sich heute selbstbewusster vorbringen, als in Zeiten, in denen es schwierig war, überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden. Gleichzeitig bietet die Arbeitswelt durch die Digitalisierung insgesamt mehr Möglichkeiten, wie beispielsweise Homeoffice.
Die Jugend ist also nicht nur zu faul, sich anzustrengen und Leistung zu bringen?
Haun: Nein, das lässt sich so nicht halten. Arbeit ist für viele Menschen nach wie vor etwas Sinnstiftendes und mehr als der Broterwerb. Aber der aktuelle Fachkräftemangel ermöglicht, dass Personen – egal welchen Alters – sich überlegen können, wie sie arbeiten wollen.

Hat die Corona-Pandemie diese Entwicklung begünstigt?
Haun: Sicher haben Arbeitnehmer in der Pandemie erfahren, dass Flexibilität und Homeoffice-Lösungen in vielen Bereichen funktionieren. Und natürlich fragt man sich dann, warum das nicht dauerhaft möglich sein sollte. Gleichzeitig haben in der Corona-Zeit viele Menschen Situationen erlebt, in denen die Grenzziehung zwischen Arbeit und Privatleben herausfordernd war. Im Homeoffice ist die Arbeit jederzeit verfügbar. Und wenn der Schreibtisch im Schlafzimmer steht, neigt man vielleicht dazu, doch abends noch schnell eine E-Mail zu beantworten. Abschalten und sich erholen, das fällt dann schwerer.
Welche Rolle spielen veränderte Lebensstandards? Früher war für viele Menschen das eigene Häuschen ein Lebensziel. Heute ist das angesichts der hohen Preise oft utopisch.
Haun: Es ist sicher so, dass sich bei steigenden Preisen nicht mehr jeder alles leisten kann. Aber ich denke nicht, dass das das vorherrschende Motiv für "Quiet Quitting" ist.
Sehen Sie das "Quiet Quitting" nur als kurzweiligen Trend oder ist es der Beginn eines echten Umdenkens auf dem Arbeitsmarkt?
Haun: Eine Debatte um Arbeitsbedingungen gibt es nicht erst seit Auftauchen des Tiktok-Videos. Schon seit mehreren Jahren überlegen sich immer mehr Menschen, welche Faktoren ihnen bei der Arbeit wichtig sind und unter welchen Bedingungen sie arbeiten möchten. Und je mehr sich die wirtschaftliche Situation Richtung Fachkräftemangel entwickelt, desto weniger Kompromisse müssen Arbeitnehmer eingehen.

Was heißt das für Arbeitgeber, wenn die Arbeitnehmer plötzlich am längeren Hebel sitzen?
Haun: Aus meiner Sicht sollte man sich mehr Gedanken machen, wie Arbeitsbedingungen gestaltet werden können. Arbeit muss so funktionieren, dass Menschen dabei gesund und fit bleiben und einen Sinn in ihrem Tun sehen. Dabei geht es um Fragen wie: Fühle ich mich wertgeschätzt von meinem Vorgesetzten, werde ich von meinem Team unterstützt und kann ich die Anforderungen an mich erfüllen? Stimmen diese Rahmenbedingungen, bleiben Menschen motiviert und langfristig gesund.
Vor diesem Hintergrund sehen sie die Idee des "Quiet Quitting" positiv?
Haun: Ja. Die Leute sind engagiert bei der Arbeit – aber es gibt keine Tendenz zur Selbstausbeutung, keinen Anspruch, über längere Zeit zu intensiv oder ohne Pausen zu arbeiten. Das ist eine gesunde Einstellung. Und es sollte auch im Interesse von Arbeitgebern liegen, Menschen gesundes Arbeiten zu ermöglichen.
Braucht es dafür eine neue Arbeitskultur?
Haun: Ich denke schon, dass dieses Bewusstsein breiter verankert werden muss. Es gibt zum Beispiel mittlerweile gesetzliche Vorgaben, beim Thema Gefährdungsanalyse am Arbeitsplatz eine psychische Komponente zu berücksichtigen. Das verpflichtet den Arbeitgeber dazu, auch Stressfaktoren und Belastungen in den Blick zu nehmen und nicht nur zu prüfen, ob der der Arbeitsplatz hell genug ist. Das ist ein erster Schritt. Generell wird betriebliche Gesundheitsförderung heute mehr in den Mittelpunkt gestellt, und das fördert ein Umdenken. Es ist wichtig, dass es Angebote gibt und dass Beschäftigte sehen, es ist nicht stigmatisiert, an einem Anti-Stress-Training teilzunehmen. Zu sagen, Erholung ist wichtig – damit setzt der Arbeitgeber ein Zeichen.
Verena Haun (Jahrgang 1983) hat an der Universität Konstanz Psychologie studiert und 2013 in Münster promoviert. Im Anschluss lehrte und forschte sie als Juniorprofessorin für Occupational Health Psychology an der Uni Mainz. Seit 2021 ist sie Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Uni Würzburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Arbeitsstress und Erholung oder das Zusammenspiel von Arbeit und Privatleben (Boundary-Management).