Sehr geehrter Herr Bäte,
so viel Aufmerksamkeit haben Sie als Allianz-Chef vermutlich selten. Kaum war Ihr Vorschlag, die Lohnfortzahlung für den ersten Krankheitstag zu streichen, veröffentlicht, ist eine heftige Debatte darüber entbrannt. Wir Deutsche – ein Volk von Blaumachern?
Neu ist die Diskussion um den Krankenstand nicht. Seit Jahren beklagen Unternehmen die hohen Kosten: Ist ein Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin krank, zahlt die Firma den Lohn ab dem ersten Ausfalltag weiter. Diese Regelung gilt seit den 70er Jahren – davor gab es jenen unbezahlten Karenztag, dessen Wiedereinführung Sie nun fordern, analog zu Ländern wie Spanien, Griechenland oder Schweden.
Krankenstand treibt Lohnkosten nach oben
Sie kritisieren, Deutschland sei "Weltmeister bei Krankmeldungen". Mit rund 20 Krankheitstagen pro Kopf und Jahr - mit Unterschieden nach Kassen und Berufsgruppen - liege man deutlich über dem europäischen Schnitt von acht Tagen. Richtig ist: Die Produktionskosten steigen durch den Krankenstand. 2023 haben deutsche Firmen fast 77 Milliarden Euro an Löhnen für ausfallende Mitarbeitende bezahlt. Zu dieser Zahl kommt eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft.
Insofern, sehr geehrter Herr Bäte, haben Sie den Finger zurecht in eine Wunde gelegt. Was es braucht, ist eine offene, ehrliche Debatte über die Ursachen des hohen Krankenstandes. Nur: Für Schwarzweißmalerei inklusive plakativer Forderungen eignet sich das Thema "Blaumachen" nicht. Schon der Begriff, nicht von Ihnen selbst in die Debatte eingeführt, suggeriert Hängematte. Vor allem aber ist die Sache für einfache Lösungen zu vielschichtig.
So greift auch Ihr Vorschlag, Beschäftigte für den ersten Krankheitstag bluten zu lassen, zu kurz. Was steckt dahinter? Es ist der Generalverdacht, dass viele einfach mal faul zu Hause bleiben, sowie die Idee, mit einem unbezahlten Karenztag solches Verhalten zu ändern.
Es gab Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, da haben sich Leute aus Angst vor Jobverlust krank ins Büro oder in die Fabrik geschleppt. Von solchen Zeiten sind wir – Gott sei Dank – gerade relativ weit entfernt. Wir haben – noch – überwiegend einen Arbeitnehmermarkt, Personal wird gesucht. Der einzelne Angestellte wird gebraucht, kennt seinen Wert. Das gibt Sicherheit, kann umgekehrt aber auch zu Anspruchshaltung und Bequemlichkeit führen und der Arbeitsmoral schaden.
Dazu passen Berichte aus Arztpraxen, wonach am Montag ungeniert nach einer Krankschreibung für den Brückentag am folgenden Freitag gefragt wird. Ja, diese Fälle gibt es. Sie sind Indiz dafür, dass etwas im Verhältnis zwischen Beschäftigten und ihrem Betrieb nicht stimmt. Wer blaumacht, schadet nicht nur seinem Unternehmen, sondern auch Kolleginnen und Kollegen, die den Ausfall auffangen müssen.
Gleichzeitig sind immer auch die Chefs für ein gutes Betriebsklima gefordert. Wo Angestellte Wertschätzung und Respekt erfahren und gute Arbeitsbedingungen haben, zahlen sie dies normalerweise mit Einsatz und Leistung zurück, oder? Man identifiziert sich mit dem eigenen "Laden", denkt gar nicht ans Blaumachen und wird seltener krank.
Aus einem Misstrauen heraus verlangen gar nicht wenige Arbeitgeber schon heute ein ärztliches Attest ab dem ersten Krankheitstag. Teilweise dürfte das nach hinten losgehen: Statt einen Tag lang ohne Attest zu Hause zu bleiben, ist der Arbeitnehmer dann gleich länger krankgeschrieben. Das Thema ist eben nicht schwarzweiß.
Eine Studie der DAK kommt zu dem Schluss, dass weder Blaumachen noch telefonische Krankschreibung für den sprunghaften Anstieg der Krankheitstage seit 2022 verantwortlich sind, sondern vor allem die neu eingeführte elektronische Krankschreibung und deren automatische Meldung an die Krankenkassen. Auch Corona und Erkältungswellen spielten hinein.
Mehr für die gesundheitliche Prävention tun
Vor diesem Hintergrund wollen Sie verbriefte Arbeitnehmerrechte und soziale Errungenschaften kastrieren? Sehr geehrter Herr Bäte, der vorgeschlagene Karenztag wäre vor allem eines: unsozial. Wer es sich finanziell leisten kann, bliebe mit Schnupfen zuhause. Ärmere kommen möglicherweise krank an den Arbeitsplatz, stecken Kolleginnen und Kollegen an. Geholfen wäre damit niemandem.

Nein, wir sollten die Debatte in eine andere Richtung lenken. Krank zu sein ist ja nicht nur ein Kostenfaktor für das Unternehmen, es ist zunächst ein persönliches Problem für den oder die Betroffene. Alle müssten eigentlich ein Interesse daran haben, möglichst gesund zu bleiben.
Das verlangt Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Sie wissen schon... Bewegung, gesunde Ernährung, Lebensstil. Dazu gehört auch, nicht gleich bei jedem Schnupfen zum überlasteten Hausarzt zu rennen. Aber Verantwortung liegt genauso in den Chefetagen: Betriebliches Gesundheitsmanagement darf nicht nur irgendwo auf dem Papier stehen, sondern muss im Arbeitsalltag spürbar werden. Prävention statt Sanktion. Weil alle was davon hätten.
Sehr geehrter Herr Bäte, bleiben Sie 2025 gesund, mit besten Grüßen aus Würzburg,
Andreas Jungbauer, Redakteur
Persönliche Post: der SamstagsbriefJedes Wochenende lesen Sie unseren "Samstagsbrief". Was das ist? Ein offener Brief, den eine Redakteurin oder ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Person des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An jemanden, dem wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert soll der "Samstagsbrief" sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der "Samstagsbrief" ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir von der Adressatin oder dem Adressaten Post zurück. Die Antwort finden Sie dann bei allen "Samstagsbriefen" hier. Und vielleicht bietet sie auch Anlass für weitere Berichterstattung.MP