Sehr geehrte Frau Stolz,
immer mehr bayerische Grundschulkinder können keinen Purzelbaum mehr schlagen, können keinen Ball mehr fangen. Auch beim Fahrradfahren und besonders beim Schwimmen haben Kinder immer öfter Defizite. Sie haben Schwimmen und Ballsport, Radfahren und Turnen einfach nicht gelernt, auch der jahrelangen Corona-Beschränkungen wegen. Diese mangelnde Bewegungsfähigkeit und das Übergewicht bei immer mehr Kindern wäre jetzt ein Thema, das Sie als Bayerns Schul-Staatssekretärin aufgreifen könnten. Ein Thema, bei dem Sie kluge Analysen, kreative Ideen und zukunftsweisende Pläne einbringen könnten. Aber was machen Sie?
Warum präsentieren Sie als "Sport, der Schule macht" ausgerechnet das Reiten?
Sie, Frau Stolz, überreichen in diesem Sommer unter dem Motto "Ein Sport, der Schule macht" an Grundschulkinder in der Münchner Region "Starterpakete". Drin im Paket sind aber keine Bälle oder Fahrradwimpel und leider auch keine vergünstigten Schwimmkurs-Gutscheine. Drin sind Reit-Unterdecken, sogenannte Schabracken, sowie Rückenprotektoren und Arbeitshefte für Reitanfänger.

Das alles gehört zu einer Initiative, die Sie, Frau Stolz, gemeinsam mit der turniererfahrenen Ministerpräsidenten-Gattin Karin Baumüller-Söder ins Leben gerufen haben. Und die Münchner Grundschulkindern das Reiten als "Sportarbeitsgemeinschaft" anbietet – vorausgesetzt, deren Eltern haben den finanziellen Spielraum, 90 Euro pro Jahr zuzuschießen und die Zeit, ihre Kinder zum Training in den kooperierenden Reithof zu kutschieren. Beim Übergabetermin des Starterpakets an Kids im gefälligen Stadtteil München-Lochhausen haben Sie gesagt: "Ich bin selbst in meiner Jugend geritten und weiß daher, was für ein wundervoller Sport das Reiten ist."
Anders als beim Reiten braucht man für Hip-Hop oder Ballsport keine teure Ausrüstung
Reitsport-Werbung aus dem Kultusministerium: Echt jetzt? Natürlich könnte man diesen Fototermin zuckersüß finden – Sie, Frau Stolz, lächelnd zusammen mit Reitanfängerinnen und auf Hochglanz gebürsteten Ponys. Aber man könnte auch die Auffassung vertreten, dass Sie als Schul-Staatssekretärin in Zeiten wie diesen mit dem Termin ein falsches Signal setzen.
Denn wenn wir schon bei Schul-Arbeitsgemeinschaften sind: Warum propagieren Sie jetzt nicht Schul-AGs in Basketball, Hip-Hop, Breakdance oder wenigstens Brennball? Alles Bewegungsarten, die anders als der Reitsport keine teure Ausrüstung brauchen, die weniger begünstigten Eltern kein Zusatzgeld abverlangen würden, die nicht nur in Reitstallnähe ausgeübt werden könnten und die leicht in die Fläche zu bringen wären.
Dem Lehrermangel fallen sogenannte Randfächer wie Sport zuerst zum Opfer
Würden Sie, sehr geehrte Frau Stolz, jetzt einwenden, dass Sie ja nicht primär für niederschwellige Schulsport-AGs da sind, sondern – so Ihre eigenen Worte bei Amtstritt - grundsätzlich als Schulstaatssekretärin dafür stehen, "für die jungen Menschen in Bayern die bestmöglichen Voraussetzungen fürs Lernen zu schaffen", dann würde ich dagegenhalten: "Genau! Wir sind genau beim Thema."
Natürlich ist Ihnen bewusst, dass wir in Bayern aktuell den massivsten Lehrermangel seit Generationen haben und natürlich wissen Sie auch, dass dieser Mangel besonders Grund- und Mittelschulen betrifft. Aber ist Ihnen auch präsent, welche Fächer notgedrungen in den Schulen am ehesten gestrichen werden, wenn nicht genug Lehrkräfte für zu viele Kinder da sind?
Genau, die Randfächer: Musik, Kunst und Sport. Und die nachmittäglichen Sport-, Musik- oder Tanz- AGs sowieso. Also praktisch alle Fächer, die Kinder in Bewegung bringen und ihnen Kraft geben, den ganzen Sitz-Unterricht zu überstehen. Bestmögliche Lernvoraussetzungen sind das nicht.
Angleichung der Grundschulgehälter? Nicht mit den Freien Wählern!
Natürlich sind Sie am bayerischen Lehrermangel nicht persönlich schuld. Weder die Zuwanderungswelle von 2015/16, noch die Ankunft ukrainischer Flüchtlingskinder und der daraus folgende Mehrbedarf an Lehrkräften waren absehbar. Und dass jahrzehntelang die bayerische Lehrerversorgung auf Kante genäht war, das kann man Ihnen auch nicht in die Schuhe schieben.
Jedoch, Frau Stolz, sind Sie sowie Kultusminister Michael Piazolo samt Ihren Mitstreitern von den Freien Wählern durchaus dafür verantwortlich, dass die Lehrerversorgung in Bayern nicht besser wird. Niemand, der bei Verstand ist, zweifelt daran, dass das Interesse am Grundschullehramt größer wäre, würde das Einstiegsgehalt der Grundschullehrer dem der Realschul-und Gymnasiallehrer endlich angeglichen. Aber während Sie und Ihre Partei vor der Landtagswahl 2019 noch vehement genau für diese Angleichung eintraten, stimmten die Freien Wähler 2021 im Landtag dagegen! Wertschätzung für die Grundschule sieht anders aus!
Mit freundlichen Grüßen,
Gisela Rauch, Redakteurin
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